Schon wieder sieht sich Gareth Southgate im Angesicht zu Deutschland in Wembley in einem großen Spiel der EM. Sollten die "Three Lions" gewinnen, kann Englands Nationaltrainer vielleicht endlich mit einer 25 Jahre alten Erinnerung abschließen. Und auch die Fans können vielleicht endlich Vergangenes Vergangenes sein lassen.

Gastkommentar
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Der renommierte TV-Kommentator Barry Davies brüllte" Oh no!" und Gareth Southgate stemmte die Hände in die Hüften, er schien innerlich zusammenzubrechen. Er blickte untröstlich auf den Boden von Wembley, zweifelsohne in der Hoffnung, der Boden täte sich auf und würde ihn verschlucken.

Andy Möller trat zum Punkt und zerstörte mit einem Schuss Englands Hoffnung auf den EM-Titel im eigenen Land. Möllers stolzer Gang wird auf ewig mit einem der schmerzhaftesten Momente des englischen Fußballs verbunden sein: als Deutschland die "Three Lions" zähmte, während die gerade drauf und dran waren, die EM zu gewinnen.

Den gesamten Text in der Originalfassung können Sie hier lesen: Thirst for revenge:Southgate will face Germany once again in Wembley

Fast schon Poetisch: Southgate trifft wieder auf Deutschland

In der Hymne "Football's Coming Home" (die die deutschen Fans auch so gerne singen) ist die Rede von "thirty years of hurt" - "30 Jahren Schmerz" in Anspielung auf die damals bereits drei Jahrzehnte anhaltende Titel-Dürre der englischen Mannschaft seit der WM 1966.

Three Lions (Football's Coming Home)

Nationales Kulturgut von 1996: Three Lions (Football's Coming Home). © YouTube

Seitdem sind noch einmal 25 Jahre dazu gekommen und es hat fast schon etwas Poetisches, dass es ausgerechnet Southgate ist, der sich nun einmal mehr Deutschland gegenübersieht (Dienstag, 18:00 Uhr, LIVE bei uns im Ticker), wieder in Wembley, wieder in einem großen Spiel bei der Europameisterschaft. Er ist ein intelligenter und netter Mann, doch wäre er kein Mensch, wenn es ihn nicht nach einer Art Wiedergutmachung oder Rache dürstete.

Darum können England-Fans Deutschland nicht leiden

Es wird immer Hurra-Patriotismus und ausgelutschte Kriegsklischees geben, die künstlich von der zynischen Regenbogenpresse aufgeblasen werden. Und es gibt zweifelsohne Teile der englischen Fanszene, deren Anti-Deutschland-Gefühle über das Sportliche hinaus gehen. Aber die Wahrheit ist schlicht und ergreifend: Viele englische Fans können Deutschland nicht leiden, weil ihr uns normalerweise schlagt.

Ihr habt uns im Elfmeterschießen aus der WM 1990 geschmissen und bei der WM 2010 in Südafrika Frank Lampards "Goal-that-never-was" überlebt, bevor ihr uns endgültig auseinander genommen habt.

Vier Jahrzehnte vor der bitteren Ungerechtigkeit von Bloemfontein (wir ignorieren jetzt einfach mal die Tatsache, dass Deutschland an dem Tag um Längen besser war), vollendete Gerd Müller ein verheerendes Comeback, das England letztendlich den Verlust der Weltmeister-Krone bescherte. Zwei Jahre später deklassierte Deutschland England mit 3:1 im Viertelfinale der EM 1972 in Wembley.

Deutschland war auch 1966 dabei

Natürlich war Deutschland auch bei Englands größtem Fußballtriumph dabei, als Geoff Hursts Hattrick Sir Alf Ramseys Team zum WM-Sieg 1966 trieb. Die ikonischen Bilder, auf denen Sir Bobby Moore die Jules-Rimet-Trophäe hochhält, sind tief im kollektiven Gedächtnis eingebrannt, doch für immer mehr England-Fans sind es eben nur Bilder.

Viele von uns waren noch nicht auf der Welt, um Zeugen dieses Augenblicks zu werden, und während wir die "Three Lions" bei allen großen Turnieren der Welter stolpern und scheitern gesehen haben, hat Deutschland eine glitzernde Trophäen-Sammlung angehäuft. Wir tun gerne so, als wäre England gegen Deutschland noch immer eine dieser großen Fußball-Feindschaften, ein Wettbewerb unter Gleichen, doch die unbequeme Wahrheit ist eine andere.

Ich arbeite im deutschen Fußball als Kommentator und Moderator, deshalb verstehe ich die wahre Balance der Rivalität besser als die meisten England-Fans. Meine Kinder schauen genauso häufig Bundesliga wie die Premier League, und der Lieblingsspieler meines Sohnes ist Joshua Kimmich (er musste tatsächlich kurz überlegen, bevor er sich entschied, am Dienstag doch sein England-Trikot zu tragen und nicht das von Kimmich).

Ich weiß, dass - während sich die England-Fans an den Gedanken von Deutschland als Lieblingsfeind klammern - die Anhänger von Jogi Löws Team viel eher an die Niederlande oder Italien denken, wenn es um Schwergewichter geht.

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Nie gab es mehr Verbindungen zwischen englischem und deutschem Fußball

Und diejenigen, die noch immer den ätzenden, militaristischen Elementen der England-Deutschland-Rivalität anhängen (vermutlich sind das die gleichen Menschen, die sich darüber aufregen, dass die Deutschen Sonnenliegen im Hotel klauen), sehen sich mit der Ironie konfrontiert, dass es wohl noch nie so viele Verbindungen zwischen dem Fußball der beiden Länder gab wie heute. Ein Deutscher (Thomas Tuchel) hat gerade Chelsea zum Champions-League-Sieg gecoacht, ein anderer Deutscher (Kai Havertz) traf dabei zum Siegtreffer gegen Manchester City in Porto.

Jürgen Klopp wird vergöttert in Liverpool - zumindest im roten Teil der Stadt - dafür, dass er Liverpool die erste Meisterschaft nach drei Jahrzehnten beschert hat, und Spieler wie Ilkay Gündogan, Timo Werner und Antonio Rüdiger spielen alle auf hohem Niveau in England.

Und diese Verbindungen gehen auch in die andere Richtung - Englands Stars Jadon Sancho und Jude Bellingham spielen herausragend bei Borussia Dortmund, und die deutschen Klubs halten immer Ausschau nach englischen Talenten. Die Bundesliga wird in England sehr respektiert, nicht zuletzt deshalb, weil Talente dort zum Zug kommen.

Ein Meisterwerk - oder ein Scherbenhaufen

Dazu kommt: England-Fans, die sich gerne Klischees bedienen, wenn es um Deutschland und deutschen Fußball geht, dürften von den aktuellen Auftritten der Löw-Elf überrascht sein. Denn die alten Erzählmuster von der deutschen Effizienz und Zuverlässigkeit stimmen schon seit Jahren nicht mehr.

Hat es jemand nach dem 4:2-Sieg über Portugal mit der Angst bekommen, sollte man sich zur Paniklinderung einfach den chaotischen Auftritt der Deutschen gegen Ungarn anschauen. Die Mannschaft steckt voller Talent, aber nicht einmal die optimistischsten Deutschland-Fans wissen, was ihr Team im nächsten Spiel abliefern wird. Es könnte ein Meisterwerk sein, oder ein Scherbenhaufen.

Für Deutschlands Spieler scheint es in jedem Fall aufregender zu sein, in Wembley zu spielen als gegen die englische Mannschaft. Und die englischen Spieler wollen sich auf das Spiel konzentrieren und nicht auf die Begleitumstände. Die meisten von ihnen waren schließlich noch nicht einmal geboren, als Southgate diesen schicksalshaften Elfmter verschoss.

Sollte England am Dienstag tatsächlich gewinnen, kann Englands Trainer diese 25 Jahre alte Erinnerung vielleicht endlich loslassen. Das täte auch einigen Fans gut. Sie gehört genauso in die Vergangenheit wie die Lieder über den Krieg. Der Sport hat sich verändert, die Welt hat sich verändert. Vielleicht sollten sich auch die Fans verändern, ganz egal, ob der Fußball nach Hause kommt oder nicht.

Aus dem Englischen übersetzt von Sabrina Schäfer

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