Deutschland zeigt gegen Ungarn trotz einiger Probleme eine reife Leistung, die ein paar wichtige Erkenntnisse liefert – und für den weiteren Turnierverlauf noch bestimmend werden könnte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Im November hätten wir nicht gewonnen", sagte Julian Nagelsmann nach dem 2:0-Sieg der deutschen Mannschaft über Ungarn bei der "ARD". Nun gehört diese Einschätzung eher zur Kategorie "gefühlte Wahrheit", aber wie Nagelsmann dürften viele Zuschauer im Stadion und an den TV-Geräten auch gedacht haben. Und wenn es einer eigentlich ganz genau wissen müsste, dann ja wohl der Bundestrainer.

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Im November, als die deutsche Mannschaft nach zwei Niederlagen in den Testspielen gegen die Türkei und Österreich am Boden lag, wäre eine derart umkämpfte Partie wie die gegen die Ungarn vermutlich eher auf die Seite des Kontrahenten gekippt – im besten Fall wäre es ein Remis geworden.

Aktuell aber, mitten im EM-Turnier, findet die deutsche Mannschaft Mittel und Wege, sich diese Spiele doch irgendwie zu eigen zu machen und das nötige Ergebnis zu erzielen. Das ist die Kernbotschaft, die der Sieg über die sehr unbequemen Ungarn und der damit verbundene vorzeitige Einzug ins Achtelfinale sendet.

Kroos: "Wichtig, diese Erfahrungen zu machen"

Vielleicht war es ganz gut, dass nach dem zauberhaften Auftakt gegen die Schotten gegen einen deutlich besseren Gegner ein Arbeitssieg errungen werden musste. Ohne den ganz großen Glanz, am Ende aber mit einer gewissen Souveränität. Ein erstes Etappenziel ist erreicht, die Mannschaft bleibt damit im Flow, gewinnt weiter an Vertrauen in die eigene Stärke und zeigt auch diese Widerstandsfähigkeit, die für ein möglichst lang andauerndes Turnier einfach unabdingbar ist.

Gegen die Ungarn waren einige ganz andere Dinge gefordert als noch am Freitag gegen Schottland: deutlich mehr Defensivarbeit in der Endverteidigung, ein noch besseres Gegenpressing, ein etwas angepasster Angang in der Offensive und auch ein wenig Geduld und eine kleine Portion Glück.

Nicht alles hat beim zweiten Sieg im zweiten Spiel funktioniert, ein paar Elemente des deutschen Spiels waren sogar stark ausbaufähig. Anders als bei einem glatten Sieg ohne große Gegenwehr wurden diese Problemzonen gegen die Ungarn aber offensichtlich. Nun bietet sich die Gelegenheit, in den nächsten Tagen und vielleicht auch noch Wochen nachzuschärfen.

"Es war schwieriger als gegen die Schotten. Wir haben die eine oder andere Schwierigkeit, die wir hatten, gut überstanden", sagte Toni Kroos bei der "ARD". "Es war ganz wichtig, Momente wie Rückstände oder, wie heute gesehen, Chancen für Ungarn zu überstehen. Das bringt einer Mannschaft enorm viel, auch weil das gerade ab der K.-o.-Runde wichtig sein wird gegen richtig gute Gegner. Da kann es sein, dass du mit jeder Aktion mal zurückliegst. Und da ist es wichtig, als Mannschaft zu wissen, dass man reagieren kann. Wir werden hier nicht sieben Spiele von vorne weg spielen und alles gewinnen. Es ist wichtig, diese Erfahrungen zu machen und auch positiv zu machen."

Manuel Neuer meldet sich im Turnier an

Tatsächlich hätte das Spiel gegen die Ungarn ein paar Mal auch eine andere Wendung nehmen können. Nach wenigen Sekunden zum Beispiel tauchte Freiburgs Roland Sallai vor Manuel Neuer auf, später rettete der Torhüter bei Dominik Szoboszlais Freistoß gleich doppelt. Es hätten ein früher Rückstand oder der Ausgleich Mitte der ersten Halbzeit sein können - beides Szenarien, die der Mannschaft erspart geblieben sind.

Für Neuer war das Spiel nach dem lockeren Auftakt gegen die Schotten wohl besonders wichtig: Zum einen, weil er sich endlich auch auszeichnen und seinen Wert für die Mannschaft unter Beweis stellen konnte. Und andererseits, weil er dem Team endlich mal wieder zu einem Zu-Null-Pflichtspiel verhelfen konnte. Dem ersten seit November 2021, damals bei einem 9:0-Sieg über Liechtenstein, und dem ersten bei einem großen Turnier seit dem Juni 2016, als die Slowakei im EM-Achtelfinale 3:0 bezwungen wurde.

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Etwas andere Rollen für Wirtz und Musiala

Der Schlüssel zum Erfolg waren ein erneut gutes Gegenpressing, das allerdings ganz anders gefordert wurde als gegen die Schotten und sich in zwei, drei Situationen dann doch als etwas löchrig erwies. Deutschland hatte den Gegner über weite Strecken der Partie gut im Griff, einige Male gelang den Ungarn aber auch die spielerische Befreiung aus der Umklammerung.

Die deutsche Restverteidigung war dann gefragt und machte ihren Job besonders in Person von Jonathan Tah und Antonio Rüdiger fast fehlerfrei. Auch über die beiden Innenverteidiger war bisher kaum gesprochen worden, nun stellten sich Tah und Rüdiger selbst ins Rampenlicht.

In der Offensive wählten Nagelsmann und sein Trainerteam ein paar alternative Lösungen, die markanteste dürften die Rollen für die beiden Kreativspieler Florian Wirtz und Jamal Musiala gewesen sein. Als echte Achter klebten die beiden in den jeweiligen Halbräumen und hielten diese Position in der Regel auch. Ilkay Gündogan blieb die Aufgabe, um Wirtz und Musiala herum auch kleinste Räume zu erkennen und diese zu besetzen.

Dadurch wurden Ungarns Halbverteidiger der Fünferkette immer wieder gelockt und der frei gewordene Raum sofort mit einem Tiefenlauf von Kai Havertz attackiert. Bot sich sein Achter etwas breiter an der Seitenlinie an und die Ungarn verschoben entsprechend auf diese Seite, spielten die deutschen Sechser den Pass aber plötzlich ballfern und entgegen der Verschiebebewegung des Gegners auf den anderen Achter und damit vorbei am sehr massiven und kompakten Zentrumsblock der Ungarn.

Gündogan der heimliche Schlüsselspieler

Diese Elemente brachen das ungarische Pressing immer wieder gut auf und generierten gute Torchancen. Allerdings haperte es ein wenig an der Effizienz - auch das ein Unterschied zum ersten Spiel, als gleich die ersten beiden Torschüsse saßen. Und weil auch die eigenen Standards kaum Gefahr erzeugten, blieben diese Disziplinen eine kleine Problemzone.

Grundsätzlich gibt es immer noch genug zu tun: das Verhalten bei gegnerischen Standards, das Nachrücken der offensiven Mittelfeldspieler und deren Strafraumbesetzung. Leroy Sanes Suche nach seinem besten Selbst. Die Lichtblicke überstrahlen diese Schwierigkeiten aber (noch).

Ilkay Gündogan hat sich nach den Debatten um seine Person und seine Spielposition im wahrsten Sinne des Wortes freigeschwommen und ist der heimliche Schlüsselspieler im deutschen Offensivspiel. Und: Die sieben EM-Tore bisher wurden von sechs verschiedenen Torschützen erzielt. Das macht die Mannschaft für den Gegner auch ziemlich unberechenbar.

Verwendete Quellen

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