Wenige Tage vor dem Start der EM 2016 in Frankreich wächst die Angst vor dem Terror, auch in Deutschland. Die Franzosen reagieren mit einem martialischen Sicherheitsaufgebot. Aber Experten warnen: Ein Restrisiko bleibt.

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Es klingt nach einem wochenlangen Belagerungszustand. Um die Sicherheit bei der bevorstehenden EM 2016 zu garantieren, hat Frankreich im Inland aufgerüstet, als stünde keine sportliche Auseinandersetzung bevor, sondern ein Bürgerkrieg.

Die seit den Anschlägen von Paris geltenden Notstands-Gesetze wurden für die Dauer des Turniers verlängert. Kameras überwachen Austragungsorte und Ballungszentren. Sondereinheiten der Streitkräfte sollen während der 51 Spiele überall im Land patrouillieren - die Rede ist von 90.000 Männern und Frauen, dazu sollen Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen kommen.

Jedes erdenkliche Szenario wurde durchgespielt

In einem eigens geschaffenen Lagezentrum werden Experten von Geheimdiensten und der Polizei rund um die Uhr die Gefahrenlage analysieren. Von dort aus soll auch im Ernstfall der Einsatz der Sicherheitskräfte gesteuert werden.

Bereits im Vorfeld wurde jedes erdenkliche Szenario von Terroranschlägen durchgespielt: Anschläge auf Busse, Züge und Bahnen, Geiselnahmen, Sprengsätze an öffentlichen Plätzen - sogar der Einsatz von chemischen Kampfmitteln soll geprobt worden sein.

Der französische Staat gibt sich demonstrativ kampfbereit und stark - und signalisiert, die Bedrohungslage im Griff zu haben. Auf keinen Fall eine Schwäche zugeben, scheint die oberste Divise der französischen Politik zu sein. "Wir werden uns das Fußballfest nicht verderben lassen", erklärte der französische Präsident François Hollande demonstrativ.

Steht den Franzosen bei der Sicherheit die eigene Hybris im Weg?

Nur: Im Vorfeld des EM-Starts gibt es auch Zweifel, ob das Sicherheitskonzept der Franzosen ausreicht, um Millionen Fußballfans wirkungsvoll zu schützen. Ausgerechnet der Sicherheitschef der Fußball-WM 2006 in Deutschland, Helmut Spahn, hat jetzt seine Zweifel öffentlich gemacht.

Der Experte warf den französischen Behörden Nachlässigkeit bei der Gefahrenabwehr vor. Erfahrungen und Expertise aus anderen Ländern seien gefragt gewesen, sagte Spahn der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".

In Bezug auf die Sicherheit würde den Franzosen ihre eigene Hybris im Weg stehen. "In Frankreich herrscht noch immer das Verständnis der 'Grande Nation' vor. Das heißt, man hat alles im Griff, braucht keinen Rat – das ist auch eine Mentalitätsfrage. Man möchte vielleicht nicht so viel von anderen hören. Was international passiert, ist für einen dann nicht so interessant", sagte Spahn.

Ein Problem sieht der Experte in den zeitgleich zur EM drohenden Streiks bei der Bahn, im Flugverkehr und eventuell auch in anderen öffentlichen Einrichtungen. Die Sicherheitslage könnte so zusätzlich verschärft werden.

Tipp an die Fans: Vielleicht ein bisschen aufmerksamer sei als sonst

Doch auch wenn Spahns Äußerungen für viel Aufsehen sorgten, von einer Fahrt nach Frankreich möchte er Sportfans explizit nicht abraten. Im Gegenteil: Ein Besuch der EM sei genauso sicher wie jeder andere Besuch von öffentlichen Veranstaltungen in der heutigen Zeit, sagte Spahn in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung. "Die Wahrscheinlichkeit, dass ich tödlich im Auto verunglücke, ist um ein Vielfaches höher, als Ziel eines Anschlags zu werden".

Es sei allerdings auch Sache der Fans, mit dazu beizutragen, dass sich die furchtbaren Attentate von Paris nicht wiederholen. Jeder Einzelne müsse diesmal "vielleicht ein bisschen aufmerksamer sein" als sonst, "aber auch gelassen".

Bei aller Bedrohung sollte "ein Sportevent immer noch ein Sportevent sein. Wenn wir uns von diesen Terroristen in unseren Freiheitsrechten einschränken lassen, erreichen die genau das, was sie wollen", betont Spahn.

Hat der IS zu neuen Anschlägen aufgerufen?

Tatsache ist: Die Hinweise auf mögliche Terror-Anschläge während der EM scheinen sich im Vorfeld zu verdichten, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland. Bereits am vergangenen Wochenende hatte die "Bild am Sonntag" aus einem internen Dokument zitiert, nachdem das Bundespolizei-Präsidium Anschläge während der EM nicht ausschließen und alle Polizei-Direktionen zur erhöhten Eigensicherung mahnen soll.

Laut Hinweisen des Bundesamtes für Verfassungsschutz habe der "Islamische Staat" dazu aufgerufen, den am Montag beginnenden Fastenmonat Ramadan zu Anschlägen im Westen zu nutzen, schreibt die "Bild am Sonntag". Damit sei möglicherweise auch die EM bedroht.

Möglicherweise, vielleicht, eventuell: Das Bundeskriminalamt (BKA) widerspricht Berichten über eine konkrete Terror-Gefahr bei der EM. Es gebe derzeit "keine Hinweise, die auf konkrete Anschlagsplanungen hindeuten", sagte BKA-Präsident Holger Münch der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Das BKA habe keine Terrorwarnung für die EM ausgesprochen, sondern lediglich eine Gefährdungsbewertung erstellt, sagte der BKA-Chef weiter.

Diffuses Gefühl der Angst

Was bleibt ist ein ungutes Gefühl und eine diffuse Angst, die wohl alle beteiligten Behördenvertreter und Fans teilen, auch in Deutschland. Denn Fakt ist, dass sich vor allem die zahlreichen Public-Viewing-Veranstaltungen kaum hundertprozentig schützen lassen.

"Es gibt immer Restrisiken", muss auch der BKA-Chef vor diesem Hintergrund einräumen. Andererseits muss sich jeder Fan selber fragen, ob diese Risiken tatsächlich größer sind als die Gefahren, mit denen wir alle jeden Tag leben.

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