Nach dem 3:1 gegen Ungarn feiern die Schweizer einen starken Start nach zuvor zahlreichen Zweifeln. Die Euphorie wächst, weshalb Anführer Granit Xhaka den Leverkusener Mahner macht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der letzte mediale Auftritt gehörte Granit Xhaka. Dass der 31-Jährige um 18:15 Uhr seinen Interview-Marathon stilecht mit einer eigenen Pressekonferenz beendete, lag daran, dass der Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft nach dem 3:1-Auftaktsieg der "Nati" bei der EM gegen Ungarn zum "Man of the Match" gewählt wurde. Der darf sich nach den beiden Nationaltrainern ebenfalls auf dem Podium den Fragen der Journalisten stellen. Durchaus eine spezielle Ehre, ebenso wie die Trophäe. Auch wenn Xhaka mit der Auszeichnung gar nicht wirklich viel anfangen kann. Was er dann auch ehrlich zugab.

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"Ich bin kein Mann von Statistiken", sagte Xhaka. "Am Schluss zählen die drei Punkte. Wer 'Man of the Match' ist oder wer die Tore schießt, war mir immer egal und das ist es heute auch noch." Man habe als Mannschaft eine sehr gute Leistung gezeigt, denn jeder Einzelne habe sich für die Mannschaft eingebracht, sagte er. "Deshalb hätten alle Spieler diesen Pokal verdient", sagte er.

Xhaka, der Dirigent

Ohne Frage aber vor allem er. Denn der Leverkusener dirigierte seine Mannschaft durch dieses Auftaktspiel, das für die Schweizer nicht ohne war nach einer eher ernüchternden, weil komplizierten Qualifikation. So gesehen war es am Samstagnachmittag in Köln eine frühe Standortbestimmung, die auch in die Hose hätte gehen können, denn Fragezeichen und Unsicherheiten bestimmten die Vorbereitung.

Doch Xhaka ging als Kopf der Mannschaft voran, bestimmte Tempo und Rhythmus, gab dem Schweizer Spiel im Mittelfeld Struktur und Charisma, entschied die Zweikämpfe in der Regel für sich, verteilte die Bälle klug und sorgte mit dafür, dass sein Team ein sportliches Ausrufezeichen setzen konnte.

"Es ist brutal wichtig, mit einem Sieg zu starten", weiß Xhaka, der seit der Quali eine Veränderung im Team wahrgenommen hat. "Ich weiß nicht, ob wir vorher zu bequem gewesen sind, aber wir sind aufgestanden. Wichtig ist, wie man aufsteht", sagte Xhaka, der in den vergangenen Wochen eine andere Mannschaft sah. "Wir trainieren intensiver, der Konkurrenzkampf war viel größer. Dann wird man auch mit einem Spiel wie heute belohnt. Das ist eine Stärke unserer Mannschaft", sagte er.

Yakin, der Tüftler

Und nannte als Beispiel die Phase, in der das Spiel nach einer starken ersten Halbzeit zu kippen drohte. Da hatten die Schweizer es gegen in der Regel unangenehm zu bespielende Ungarn gut gemacht, den Gegner kaum zur Entfaltung kommen lassen und vor allem selbst die Chancen mit Übersicht, spielerische Finesse, aber auch mit Geduld gesucht.

Nationaltrainer Murat Yakin hatte sich wieder für eine Dreierkette entschieden, die die Grundlage schaffte für strukturierte Angriffe mit viel Ballbesitz. Daneben überraschte er mit den Aufstellungen von Michel Aebischer und Kwadwo Duah, die das Vertrauen mit je einem Treffer zurückzahlten, zudem bereitete Aebischer den Führungstreffer Duahs sehenswert vor. Womit die Schweizer eine verdiente 2:0-Führung herausgespielt hatten und der Sieg am Ende fraglos auch ein Trainersieg ist.

Doch die zuvor harmlosen Ungarn gingen Mitte der zweiten Hälfte mehr Risiko ein, waren offensiv wacher und konsequenter, was zum 1:2-Anschlusstreffer führte. Und zu einer anschließenden Zitterpartie. "Und früher hätten wir in der 90. Minute den Ausgleich kassiert. Heute schießen wir dann selbst das Tor", so Xhaka über das 3:1 des eingewechselten Breel Embolo. Auch hier bewies Yakin ein glückliches Händchen. Unter dem Strich war es interessant zu sehen, wie die Mannschaft auf die kleine Reifeprüfung reagierte: Abgeklärt, ruhig und auf die Entscheidung aus, anstatt das Resultat zu verwalten.

Xhaka, der Mahner

Auch das kann man als Verdienst Xhakas verbuchen, denn auf eine gewisse Art und Weise hat er der "Nati" die Leverkusener Mentalität eingeimpft. Große Ziele verfolgen, aber nur mit angezogener Handbremse darüber reden. Und das Turnier "von Spiel zu Spiel" sehen, das hat als Mantra schon Bayer Leverkusen zu 51 Pflichtspielen ohne Niederlage in Folge und dem Double geführt. "Wir müssen auf uns schauen", betonte Xhaka dann auch, als die Fragen zur deutschen Nationalmannschaft kamen, dem Schweizer Gruppengegner, zum 5:1-Auftakt des DFB-Teams gegen Schottland, der förmlich explodierten Euphorie rund um den EM-Gastgeber.

Auch Yakin schob das DFB-Thema weg, schließlich warten am Mittwoch erst einmal die angeschlagenen Schotten. "Was danach passiert, ist erst nächste Woche. Wir haben noch viel Arbeit vor uns", sagte Yakin und meinte die gefährliche Phase in Halbzeit zwei, "da haben wir gegen einen Gegner, der offensiv mehr Risiko gegangen ist, Mühe gehabt."

Doch das Selbstverständnis ist längst so ausgerichtet, dass er die "super Qualität" und das "große Selbstvertrauen" in seinem Kader öffentlich preist. Und keine Frage: Euphorie haben die Schweizer jetzt selbst mehr als genug, die zahlreichen Fans machten in Köln ordentlich Lärm und gaben der Mannschaft bei der Ehrenrunde auch eine erhöhte Erwartungshaltung mit auf den Weg. Denn das Tor zum Achtelfinale steht schon jetzt weit offen.

Der große Wurf?

Und die Anhänger sahen, dass die goldene Generation um Xhaka, Yann Sommer (35), Xherdan Shaqiri (32) und Ricardo Rodriguez (31) vielleicht doch noch einmal zum großen Wurf ausholt. Nicht umsonst hatte die Boulevardzeitung Blick im Vorfeld von Momenten der "Wahrheit und vor allem auch der großen Chance" geschrieben. Dass die Schweizer diese Chance ergreifen wollen, haben sie gegen die Ungarn nachdrücklich bewiesen.

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