• England geht als Favorit ins Halbfinale gegen Dänemark, fast alle Zahlen sprechen für die "Three Lions".
  • Aber es gibt auch Schwachstellen im englischen Spiel - die bisher nur noch nicht aufgedeckt wurden.
Eine Analyse

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Die englischen Pubs bleiben am kommenden Sonntag länger geöffnet. Bis 23:15 Uhr englischer Zeit darf dann getrunken und gefeiert werden - und dass es etwas zu feiern geben wird, das steht für die meisten Fans der englischen Nationalmannschaft jetzt schon fest.

Die Verordnung von Premierminister Boris Johnson passt da ganz gut dazu, wenngleich sie für den Fall einer möglichen Verlängerung im EM-Finale formuliert wurde: Niemand würde die Gäste schließlich mitten in der "extra time" vor die Tür setzen wollen. Deshalb gibt es jetzt die "extra drinking time", wie der Boulevard schon genüsslich feststellte.

Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Triumph der englischen Nationalmannschaft im nationalen Heiligtum Wembley. Und der sollte doch bitteschön machbar sein – nachdem die "Three Lions" erst die vermeintlich unbezwingbaren Deutschen aus dem Turnier gekegelt und dann die Ukraine mit 4:0 vermöbelt haben. Ohne Gegentor ist die Mannschaft von Gareth Southgate ins Semifinale spaziert, das gab es noch nie bei einer Europameisterschaft.

Und weil nun auch die Angriffsmaschine heiß zu laufen scheint, weil Harry Kane endlich trifft, weil Raheem Sterling das Turnier seines Leben spielt und überragende Kicker wie Jadon Sancho oder Jack Grealish sich in eine Hauptrolle drängen, ist der EM-Titel für England plötzlich zum Greifen nah. Zumal 60.000 Fans in Wembley einen zusätzlichen Faktor darstellen könnten.

Jordan Pickford: Rückhalt oder Sicherheitsrisiko?

Die Voraussetzungen für den ersten Titel seit 55 Jahren sind also so gut wie lange nicht, es ist alles vorbereitet. Aber ist es diese englische Mannschaft auch? Denn hinter den schönen Statistiken stehen auch nach fünf Turnierspielen immer noch einige Fragezeichen.

Torwart Jordan Pickford hat in fünf Spielen erst neun Schüsse auf sein Tor bekommen. Und er hat alle neun davon auch gehalten. Das ist eine beeindruckende Bilanz sowohl für den Keeper als auch für dessen Mitspieler, die so wenige Abschlüsse des Gegners zulassen wie sonst keine andere Mannschaft. Macht das Pickford nun aber auch zum besten Torhüter des Turniers oder bescheinigt ihm gar Weltklasse? Nein.

Pickford hat bisher gut gehalten, aber er wurde auch selten geprüft. Allerdings zeigt sich der ehemals flatterhafte Keeper des FC Everton bislang erstaunlich ruhig, nichts ist mehr zu sehen von jenem übermotivierten Nervenbündel, das sich selbst im Weg steht. In England hoffen sie darauf, dass sie auch gegen die Dänen und in einem möglichen Finale gegen Italien den "Three Lions"-Pickford sehen - und nicht jenen des FC Everton.

Dort fiel der 27-Jährige immer wieder durch wilde Einlagen auf, verschuldete mit einer regelrechten Kung-Fu-Einlage im letzten Herbst unter anderem den Kreuzbandriss von Liverpools Virgil van Dijk. Allmählich legt Pickford dieses Image ab, aber wie viel die neu gewonnene Ruhe wert ist, wird sich erst gegen Teams zeigen, die mehr als einen oder zwei Bälle auf das englische Tor bekommen.

Risikoloser, kontrollierter Ansatz

Die Fans der "Three Lions" haben sich damit arrangiert, dass auch in Zeiten des Überflusses an herausragenden Feldspielern die Torhüterposition ein kleiner Unsicherheitsfaktor bleibt. Und sie haben sich damit arrangiert, dass ihre Mannschaft - trotz zuletzt vier Toren gegen die Ukraine und zweier gegen Deutschland - einen eher unscheinbaren Fußball spielt.

Southgates Ansatz einer sehr kontrollierten Defensive mit bis zu acht Feldspielern zwischen dem Ball und dem eigenen Tor ist sehr pragmatisch. Und solange die Ergebnisse stimmen - oder genauer: Solange England das erste Tor erzielt -, ist das für diese Mannschaft auch das richtige Rezept.

Das Spiel gegen Deutschland war 75 Minuten lang ausgeglichen, hätte ebenso auch zugunsten der deutschen Mannschaft kippen können. Und niemand in England sollte sich vom klaren Sieg über die Ukraine zu sehr blenden lassen. Dafür war die Partie bis zum 2:0 zu umkämpft.

Die Engländer spielen von allen vier Halbfinalisten den Fußball mit dem wenigsten Risiko, setzen lieber auf Stabilität und eine immer ausreichend bestückte Restverteidigung. Auch gegen den Ball ist das tiefe Verteidigen oberste Spielerpflicht und nicht unbedingt der frühe Ballgewinn.

Deshalb wirkt das Offensivspiel nicht nur etwas schleppend, sondern spiegelt sich auch in einer aussagekräftigen Statistik wider. Während Spanien (110), Italien (102) und Dänemark (89) inklusive gespielter Verlängerungen schon über oder an die einhundert Schüsse auf das gegnerische Tor abgegeben haben, liegt England hier mit 37 Schüssen meilenweit dahinter.

England vertraut auf seine kühle Effizienz, die bisher für immerhin acht Turniertore gereicht hat. Aber noch hat die Mannschaft nicht zeigen müssen, dass sie auch richtigen Druck und Zug zum Tor des Gegners entwickeln und Chancen herausspielen kann. Diese Prüfung stünde spätestens dann an, wenn die Engländer mal einem Rückstand hinterherlaufen. Und aktuell kann niemand so richtig einschätzen, wie die Mannschaft auf einen Rückschlag dieser Art reagieren würde.

Die Last der Erwartungshaltung und ein Blick in die Geschichte

Die Fans im Stadion könnten helfen, der Heimvorteil - England spielt im besten Fall sechs seiner sieben Spiele in Wembley - ist nicht von der Hand zu weisen. Und die Euphorie im Land ist grenzenlos. Was auf der anderen Seite aber auch eine Fallhöhe schafft: Die Fans gehen selbstverständlich von einem Finaleinzug aus und haben offenbar die beiden letzten Spiele gegen Dänemark schon vergessen: Im letzten Herbst gab es ein 0:0 und ein 0:1 aus englischer Sicht.

Und auch die Geschichte der Europameisterschaften weisen Dänemark als kleinen England-Schreck aus: 1984 schafften es die "Three Lions" nicht zum Endturnier nach Frankreich - weil "Danish Dynamite" das entscheidende Qualifikationsspiel im alten Wembley-Stadion mit 1:0 gewann und selbst zur EM fuhr. Acht Jahre später scheiterte England bereits in der Gruppenphase, unter anderem an Dänemark - das dann später den EM-Titel einfuhr.

Southgate zeigte sich auf der Pressekonferenz am Dienstagabend dennoch optimistisch: "Druck kann auch motivieren. Wir waren noch nie im Endspiel. Wenn wir schon fünf Titel gewonnen hätten, würde es sich anders anfühlen. Aber das haben wir nicht. Dieses Team überwindet neue Hürden - und nun können sie das auch mit dem ersten Finaleinzug schaffen. Darum geht es."

Einen etwas kruden Vergleich schob Englands Trainer dann aber noch hinterher: "Dänemark hat die EM, anders als wir, schon einmal gewonnen. Vielleicht haben sie also mehr Druck als wir." Das wiederum hört sich schon ein bisschen nach Wunschdenken an.

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