Harry Kane musste bei der EM bislang sehr viel Kritik einstecken, denn der Stürmerstar der Engländer erfüllt die hohen Erwartungen in der Heimat nicht. Im Halbfinale gegen die Niederlande konnte er erneut nicht überzeugen, traf aber vom Punkt. Und steht nun mit den "Three Lions" im Finale – und vor einem möglichen Titel.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Harry Kane grinste die Kritik der vergangenen Wochen weg. Und die Euphorie sprudelte förmlich aus ihm heraus, als Englands Torjäger seine Emotionen nach dem Finaleinzug verbalisieren sollte. Es wirkte fast so, als könne der 30-Jährige selbst nicht ganz fassen, dass die "Three Lions" bei diesem Turnier nach dem dramatischen 2:1 gegen die Niederlande tatsächlich im Endspiel stehen. So massiv war die Missbilligung aus der Heimat, weil die Darbietungen von Kane und Kollegen zumeist enttäuschend waren.

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Doch gegen den ersten großen Gegner bei der EM deutete England endlich an, warum man im Vorfeld als einer der ganz heißen Favoriten gehandelt wurde. "Es ist etwas Besonderes, wirklich etwas Besonderes", sagte Kane der Presse. "Wir werden von Runde zu Runde besser. Heute war unsere mit Abstand beste Leistung und wir haben den Sieg völlig verdient."

Kane im Zentrum der Kritik

Mit dem erneuten Einzug in das Finale dürften die Stimmen aus der Heimat erst einmal verstummen. Zumindest für einen Tag, vielleicht auch für zwei Tage. Zuletzt hatten die Kritiker die negative Tonalität rund um die Nationalmannschaft bestimmt und inmitten der Dauerschelte stand stets auch Kane, weil er wie seine Teamkollegen nicht seinen Rhythmus findet.

Er verstehe, dass man nicht so gut gespielt habe, wie man es könne, sagte Kane, "aber letztendlich habe ich gesagt, dass wir erst nach dem Turnier sehen werden, wo wir stehen. Wir haben ein Finale erreicht. Wir haben noch einen Schritt vor uns, um Geschichte zu schreiben."

Das hat Kane bereits getan. Englands Kapitän ist der erfolgreichste Torschütze in K.-o.-Spielen bei Europameisterschaften. Er traf gegen die Niederlande zum 1:1 (18., Foulelfmeter) und erzielte damit sein sechstes Tor in einer K.-o.-Runde. Damit ließ er den Franzosen Antoine Griezmann, mit dem er sich bislang Platz eins geteilt hatte, hinter sich. Es war sein drittes Turniertor. Es war auch seine persönlich beste Turnierleistung - aber längst keine gute. Was über sein Turnier viel aussagt.

Ein perfekter Elfmeter

In einer ansprechenden Anfangsphase hatte er mit einem parierten Fernschuss die erste Chance der Engländer. Dazu holte er den Foulelfmeter heraus, den er anschließend selbst höchst souverän verwandelte. "Besser kann man den nicht schießen, diese Präzision und Schärfe. Der Keeper ist voll in der Ecke und schnuppert noch nicht mal dran. Der ist perfekt, der Elfmeter", sagte Ex-Profi Thomas Broich in der ARD. Und Rekordnationalspieler Lothar Matthäus fühlte sich bei MagentaTV sogar an Andreas Brehmes Elfmeter im WM-Finale 1990 erinnert.

Doch sein insgesamt dritter Turniertreffer im sechsten Spiel gab Kane kaum Auftrieb. Er war viel unterwegs, im Schnitt läuft er bei der EM rund zehn Kilometer pro Spiel. Allerdings kommt er laut "Fbref" auf nur 141 Ballkontakte, gegen die Niederlande waren es 25. Kane ließ sich wie so oft weit zurückfallen, agierte teilweise im Mittelfeld wie ein Zehner. Oder er wich auf die Außen aus, fehlte dann aber als Mittelstürmer im Zentrum.

Von seinen 16 Passversuchen kamen elf an, seine Passgenauigkeit von 69 Prozent war die schlechteste der Startelf. Im Laufe des Turniers kommt er auf zehn Torschüsse, sechs davon gingen direkt auf das Tor, so eine Uefa-Statistik. Davon war eine Chance eine klare. Dass Kane in der vergangenen Saison in der Bundesliga mit 36 Treffern Torschützenkönig wurde, würde man nicht annehmen, wenn man ihn bei der EM zum ersten Mal spielen sieht.

Keine weiteren Chancen

Dass er nicht zu 100 Prozent fit ist, zieht sich als ein essenzieller Vorwurf durch das Turnier. Kane hatte den aber vor dem Halbfinale zurückgewiesen, hatte erklärt, er habe das Gefühl, sich gut vorbereitet zu haben. Trotzdem konnte er am Mittwoch die Kritik nicht entkräften, er sei nicht gut genug eingebunden in das englische Spiel. Obwohl die Offensive vor allem durch den in der ersten Halbzeit starken Phil Foden endlich mal ordentlich Musik machte, gab es für Kane keine weiteren Torchancen mehr.

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Vor allem in der zweiten Hälfte zog das Spiel einmal mehr an ihm vorbei, Akzente konnte er keine mehr setzen. Es machte streckenweise immer noch den Eindruck, als sei er ein Fremdkörper. Allerdings fielen die "Three Lions" mit zunehmender Spielzeit generell in ihre altbekannte Lethargie zurück. Und zur Wahrheit gehört es auch, dass Kane nicht nur der Torjäger, sondern auch ein Führungsspieler ist, dessen Präsenz und Laufarbeit auf dem Platz für die Mannschaft wichtig ist.

Dass der für Kane in der 81. Minute eingewechselte Ollie Watkins am Ende den umjubelten Siegtreffer erzielte, passte trotzdem zu diesem Abend. Denn seine Beweglichkeit beim Abschluss unterstrich in gewisser Weise Kanes Unbeweglichkeit, die er auch gegen die Niederlande oft zeigte.

Geschichte schreiben

So bleibt Kane bei der EM weiterhin ein Rätsel. Der essenzielle Punkt: Am Ende wird das alles komplett egal sein, wenn England am Sonntag im Finale gegen Spanien den ersten großen Titel seit 1966 holt. Es wäre der erste bedeutende Pokal in Kanes Karriere und sein persönliches Totschlagargument in jeder Diskussion.

"Es wird nur darum gehen, wer es mental richtig macht, und auch nur um Momente. Wir hatten in diesem Turnier Momente, die uns im Spiel gehalten und uns auch über die Linie gebracht haben. Und das werden wir am Sonntag brauchen, wenn wir Europameister werden wollen", sagte Kane. Damit er die Kritik dann endgültig weggrinsen kann.

Verwendete Quellen

  • fbref.com: Harry Kane
  • Mixed Zone nach dem Spiel Niederlande gegen England
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