Das 3:3 gegen die Ukraine war für die deutsche Nationalmannschaft ein Alarmsignal. Die DFB-Elf ist trotz des vielen Ballbesitz nicht dazu in der Lage, ein Spiel wirklich zu kontrollieren. Bundestrainer Hansi Flick führt das auf ein Kopfproblem zurück.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Oliver Jensen sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Morgen in einem Jahr beginnt die Europameisterschaft in Deutschland. Die DFB-Elf wird das Eröffnungsspiel in München bestreiten und soll eine Euphorie wecken, die an das Sommer-Märchen von der Heim-WM 2006 erinnert.

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Das 3:3 gegen die Ukraine lieferte jedoch den Beweis dafür, wie weit die Mannschaft davon noch entfernt ist. Nach einer frühen 1:0-Führung gab die DFB-Elf das Spiel aus der Hand, lag zwischenzeitlich mit 1:3 zurück und vermieste den anfangs so gut gelaunten Fans die Stimmung. Die Gegentreffer wurden mit Pfiffen quittiert.

Schlimmer noch: Statt die Nationalmannschaft anzufeuern, feierten die Fans im Bremer Weserstadion lieber ihre Bundesligamannschaft und sangen: "Hier regiert der SVW." Ein klares Zeichen dafür, dass von einer EM-Euphorie noch nichts zu spüren ist.

Füllkrug fragte sich: "Was geht hier gerade ab?"

Lokalmatador Niclas Füllkrug versuchte es mit Humor zu nehmen: "Das Bremer Publikum ist qualitativ sehr hochwertigen Fußball gewohnt. Deswegen kamen wahrscheinlich ein paar Pfiffe." Tatsächlich aber musste der Stürmer zugeben, den Spielverlauf selber nicht begreifen zu können: "Es gab Phasen im Spiel, in denen wir dachten, wie kann das sein, dass wir in dieser Situation sind? Was geht hier gerade ab?"

Dabei ist die Ursache des Problems offensichtlich. Deutschland tut sich schwer gegen Mannschaften, die tief verteidigen und auf Konter lauern. Gegen die Ukraine hatte die DFB-Elf 69 Prozent Ballbesitz und ein Torschussverhältnis von 16:5. Gebracht hat es wenig!

Ein Spiegelbild von der WM-Pleite gegen Japan

Der Spielverlauf erinnerte fast ein wenig an das erste WM-Gruppenspiel gegen Japan. Damals hatte Deutschland sogar 74 Prozent Ballbesitz und ging ebenfalls mit 1:0 in Führung, verlor aber aufgrund eines schwachen Defensivverhaltens mit 1:2.

Ähnlich problematisch war das nun gegen die Ukraine: Deutschland erwies sich als konter- und fehleranfällig. Die aus Nico Schlotterbeck, Antonio Rüdiger und Matthias Ginter bestehende Dreierkette ließ sich zu einfach überspielen. Auch der eigentlich aufstrebende Julian Brandt erlebte einen rabenschwarzen Tag und hatte an zwei Gegentreffern Mitschuld. Vor dem 1:1 leistete er sich einen Ballverlust, vor dem 1:3 spielte er einen katastrophalen Rückpass.

Die Bilanz spricht für sich: Deutschland hat nur drei der letzten neun Länderspiele gewonnen – und zwar gegen die Fußball-Zwerge Peru, Costa Rica und Oman. Selbst Nationen wie Ungarn, Japan und jetzt die Ukraine konnte die DFB-Elf nicht besiegen.

Henrichs will "nicht alles schlecht reden"

Kann sich Deutschland gegen viele Durschnittsteams, die einfach nur tief stehen und auf Fehler lauern, nicht mehr durchsetzen? "Wir sollten nicht alles schlecht reden", sagte der Außenverteidiger Benjamin Henrichs auf Nachfrage unserer Redaktion: "Wir haben Fehler gemacht, das ist unsere Schuld und das müssen wir abstellen. Wir müssen besser spielen und die Fehler minimieren."

Genau das scheint der DFB-Elf allerdings schwerzufallen. "Oft kommt das Gefühl auf, dass wir trotz sehr viel Ballbesitz das Spiel nicht kontrollieren", stellte Füllkrug fest. "Das sind kleine Unaufmerksamkeiten, die wir dann haben – unglückliche Situationen, in denen wir wachsamer sein müssen. Vielleicht müssen wir besser kommunizieren, sodass alles klar ist."

Ist also alles eine Frage der Abstimmung? Das Experiment von Flick, in einer Dreierkette zu agieren, verlief in der Hinsicht eher enttäuschend. "Das muss sich eben alles noch finden", sagte Füllkrug. "Es war für die Jungs das erste Mal, dass sie bei der Nationalmannschaft in einer Dreierkette spielten. Diese Konstellation hatten wir noch nicht."

Bundestrainer Hansi Flick weiß, dass die DFB-Elf noch längst nicht turnierreif ist, und deutete auf ein Kopfproblem hin: "Was ich im Training sehe, ist auf sehr hohem Niveau. Aber die Mannschaft verliert relativ schnell das Vertrauen in ihre Qualität, da müssen wir dran arbeiten, das am besten mit Siegen Stück für Stück wieder erspielen." Die nächsten Länderspiele gegen Polen am Freitag und Kolumbien am kommenden Dienstag bieten die Möglichkeit dazu.

Flick hofft auf Parallele zu 2006

Positiv ist immerhin, dass Deutschland trotz der drei Gegentore und der Pfiffe ins Spiel zurückfand. Vor allem der eingewechselte Kai Havertz sorgte für offensive Impulse, traf zum 2:3 und holte dann den Elfmeter zum 3:3 (Torschütze Joshua Kimmich) heraus. Ob solche Erlebnisse der Mannschaft im Hinblick auf die EM Mut machen?

Oder anders gefragt: Kann die deutsche Nationalmannschaft in den kommenden zwölf Monaten einen Entwicklungsprozess einleiten, um die Nation bei der EM doch noch zu begeistern?

Ein Beispiel aus dem März 2006 macht Flick Hoffnung: "Da hat man 1:4 in Italien verloren, es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es (bei der WM drei Monate später, Anm.d.Red.) ein Sommermärchen geworden. Wir sind zeitlich noch etwas weiter davon entfernt, und wir wissen, dass eine Menge Arbeit vor uns liegt. Da bin ich auch überzeugt von der Mannschaft."

Der Auftritt gegen die Ukraine lässt allerdings die Frage offen, ob die Mannschaft derzeit von sich selber überzeugt ist.

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