Die Flut an Absagen und Abreisen bei der Nationalmannschaft öffnet unverhofft die Tür für einige hoffnungsvolle Perspektivspieler. Aber wie könnten die Neuen und ein Rückkehrer nun auf die Schnelle helfen - und wie steht es um ihre langfristigen Aussichten?

Mehr News zum Thema Fußball

Es knirscht und knarzt ein bisschen bei der deutschen Nationalmannschaft. Der Start in die Nations League und damit die Möglichkeit auf einen Titel ist vor wenigen Wochen zwar gelungen. Das 5:0 gegen Ungarn und das Remis gegen die Niederlande lassen der deutschen Mannschaft in Gruppe 3 alle Chancen auf den Einzug in die K.o.-Runde.

Vor den beiden nächsten Spielen gegen Bosnien-Herzegowina und erneut die Niederlande - dieses Mal allerdings im Heimspiel in der Münchener Allianz Arena – sorgten diverse Absagen und Abreisen für eine gehörige Fluktuation. Und beim einen oder anderen Spieler auch für etwas Verstimmung.

"Es muss für jeden etwas ganz, ganz Besonderes sein, hier dabei sein zu wollen", sagte Joshua Kimmich am Dienstag während einer Presserunde in Herzogenaurach. "Ob man einhundert Länderspiele hat oder drei. Ob man 34 ist oder 19." Gemeint war mit dieser gar nicht so versteckten Kritik Bernd Leno, der seine geringen Chancen auf einen Einsatz zum Anlass genommen hatte, erst gar nicht zur Nationalmannschaft anzureisen.

Lesen Sie auch

"Nicht nur für Bernd: Wenn einer nicht dabei sein möchte, dann muss er auch nicht kommen", so Kimmich weiter. "Wir haben genügend andere Spieler, die sehr gerne dabei sind. Wir wollen Spieler haben, die hier dabei sein wollen."

Leno hatte aus freien Stücken abgesagt, andere wie Jamal Musiala, Niclas Füllkrug, Robin Koch, David Raum oder Benjamin Henrichs waren eigentlich fest eingeplant, mussten aber wegen Verletzungen passen. Dafür rückten in den letzten Tagen gleich vier Spieler nach: Jamie Leweling, Jonathan Burkardt, Kevin Schade und zuletzt Robin Gosens. Lediglich Gosens darf sich als gestandener Nationalspieler fühlen, das Trio und der ohnehin erstmals berufene Tim Kleindienst dagegen taucht in diesen Tagen in eine fast völlig neue Welt ein.

Kleindienst stößt wohl mit Verspätung zum DFB

Kleindienst wäre nach seinen starken Leistungen beim 1. FC Heidenheim wohl schon vor der Sommerpause eine Option gewesen, hätte die Heim-EM nicht stattgefunden. Mit Füllkrug war ein Stoßstürmer schon gesetzt, die Zeit für Experimente nicht gegeben. Also rückt Kleindienst nun als Gladbach-Spieler ins Team und darf sich im reifen Alter von 29 Jahren und nach fast neun Jahren Abstinenz - damals noch als Spieler der U-20-Nationalmannschaft - wieder das DFB-Dress überstreifen.

Der gelungene Start in Gladbach dürfte Bundestrainer Julian Nagelsmann in seiner Meinung über Kleindienst bestärkt haben, Füllkrugs Ausfall und auch jener von Kai Havertz als eher spielender Mittelstürmer lassen Kleindiensts Chancen auf ein wenig Einsatzzeit gar nicht so gering erscheinen. Die Vorzüge eines wuchtigen zentralen Angreifers wurden in den Füllkrug-Debatten der letzten Monate ausgiebig besprochen, nun soll Kleindienst womöglich in diese Rolle schlüpfen und dabei seine Stärken als Wandspieler und kopfballstarker Akteur im gegnerischen Strafraum sowie bei Defensiv-Standards vor dem eigenen Tor einbringen. Das ist für den Routinier auf einer sehr neuralgischen Position in der deutschen Mannschaft zumindest mal ein Anfang.

Schades Vielseitigkeit als Trumpf

Den hat Kevin Schade schon vor rund anderthalb Jahren vollzogen, damals noch unter Ex-Bundestrainer Hansi Flick. Schade ist nach seinem Wechsel zum FC Brentford im letzten Sommer etwas vom Radar der deutschen Fans verschwunden, zeigt in der Premier League nach seiner schwerwiegenden Verletzung und einem halben Jahr Ausfallzeit in dieser Saison aber wieder starke Leistungen.

"War gerade beim Obi..." Kleindienst und Burkardt über den ersten Nagelsmann-Anruf

Stell' dir vor, du bist beim Obi und plötzlich ruft der Bundestrainer an: Für Tim Kleindienst wurde es eines der schönsten Telefonate überhaupt. Und auch der DFB-Kollege Jonathan Burkardt war beim Anruf von Julian Nagelsmann ganz perplex und konnte kaum noch richtig zuhören.

Zwar bleibt Schades Ausbeute in den gängigen Statistiken weiter überschaubar, nach neun Pflichtspielen steht erst ein Scorerpunkt in den Büchern. Aber Schades Geschwindigkeit, seine Stärken im Tempodribbling und seine Vielseitigkeit in der Offensive sind starke Argumente für ein Comeback in der Nationalmannschaft.

Mit dem 22-Jährigen bekommt Nagelsmann einen Allrounder zurück, der auf dem Flügel zu Hause ist, aber auch etwas zentraler spielen könnte. Oder sogar als Schienenspieler vor einer Dreierkette. Auch diese Art Spieler ist beim DFB durchaus gefragt, ähnlich wie Gosens könnte Schade hierfür eine Option sein. Und auf Sicht auch ein Herausforderer für die Sprinter Serge Gnabry oder Leroy Sane in der Offensive.

Leweling: Lückenfüller oder mehr?

Wie im Übrigen auch Jamie Leweling. Der hat sich erst beim VfB Stuttgart durchgebissen und einen Stammplatz erobert und nun seinen wundersamen Aufstieg mit der ersten Einladung zur A-Nationalmannschaft einfach fortgesetzt. Leweling ist technisch nicht immer herausragend fein, aber in beide Spielrichtungen verlässlich und umtriebig. Und er bringt eine Energie auf den Platz, wie nur wenige andere Spieler. Dazu hat er im Laufe der letzten Monate auch eine zuvor nicht gekannte Torgefahr entwickelt.

Für Leweling dürfte es in den beiden Spielen gegen Bosnien und die Niederlande darum gehen, ein wenig DFB-Luft zu schnuppern und vielleicht auf ein paar Spielminuten Einsatzzeit zu hoffen. Der Weg zu einer festen Größe dürfte für den ehemaligen U-21-Nationalspieler aber trotz aller Vorzüge noch ein weiter sein. Vermutlich geht Leweling fürs Erste als eine Art Lückenfüller durch, der durch Musialas Verletzung nun eben etwas früher berufen wurde als zunächst vielleicht angedacht.

Nagelsmann jedenfalls hatte Leweling schon länger auf dem Schirm, mit Stuttgarts Auftritten in der Königsklasse sammelt der Spieler nun auch wertvolle Erfahrung auf internationalem Parkett und könnte mit Blick auf das Fernziel WM 2026 dann noch ein wenig interessanter werden.

Burkardt bringt eigentlich alles mit

Davon durfte Jonathan Burkardt vor ein paar Monaten allenfalls träumen. Nach einer wieder einmal schwierigen Saison mit Mainz 05, mit Abstiegskampf und Trainerwechseln, hatte Burkardt erkennbare Probleme, wieder in der Bundesliga Fuß zu fassen. Eine schwerwiegende Knieverletzung hatte den Mittelstürmer gestoppt, aus dem ursprünglich prognostizierten "kleinen Eingriff am Knie" wurden mehrere Operationen und insgesamt fast ein Jahr Ausfallzeit.

Nun hat sich Burkardt im wahrsten Sinne zurückgekämpft und spielt in den bisherigen Spielen der neuen Saison groß auf. Sechs Scorerpunkte (fünf Tore, ein Assist) aus sechs Spielen machen Burkardt zum gefährlichsten Angreifer mit einem deutschen Pass. Dabei besticht der 24-Jährige mit dem kompletten Repertoire eines Mittelstürmers: Burkardt ist schnell, durchsetzungsfähig, stark im Kopfball und beidfüßig. Und er hat einen äußerst ausgeprägten Torriecher und ein gutes Spielverständnis.

Allerdings hat Burkardt diese Vorzüge bisher noch nicht auf internationalem Top-Niveau unter Beweis stellen können. In Abwesenheit von Füllkrug und Havertz und wenn deren designierter Ersatz Deniz Undav mal ein wenig Pause benötigt, könnte Burkardt tatsächlich zu seinem DFB-Debüt kommen. Und für die Zukunft eine sehr interessante Alternative für den deutschen Angriff werden.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.