War der Hochleistungssport jemals fair? Während sich deutsche Historiker bislang vor allem mit den Dopingpraktiken in der ehemaligen DDR auseinandergesetzt haben, steht nun die Bundesrepublik im Fokus. Giselher Spitzer ist Mitautor der Studie "Dopinggeschichte in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation". Im Interview erklärt er die Unterschiede zwischen "systematischem" und "systemischem" Doping, das Problem bei der Erforschung der Dopingpraktiken in der BRD und warum die Studie bislang noch nicht veröffentlicht wurde.

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Im Osten gab es mit dem Staatsplan 14.25 ein ausgeklügeltes, staatliches Dopingsystem, mit dem die DDR-Sportler zu Höchstleistungen getrimmt wurden. Und in der BRD? Bislang stand nur so viel fest: Bereits seit Gründung der Bundesrepublik wurde die leistungssteigernde Wirkung von Dopingmitteln erforscht. Das belegt der bereits vor zwei Jahren veröffentlichte Zwischenbericht der Forscher von der Berliner Humboldt-Universität (HU) und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Sie haben im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und des Bundesinstitutes für Sportwissenschaft (BISp) die oben erwähnte Studie angefertigt.

Der rund 800-seitige Abschlussbericht zur Studie vom BISp ist bereits im Frühjahr fertiggestellt worden, wurde bislang aber noch nicht veröffentlicht. In ihrer Samstagsausgabe berichtete nun die "Süddeutsche Zeitung" darüber. Demnach soll der Staat Doping-Forschung mit Steuermitteln finanziert haben – nicht etwa als Reaktion auf das Staatsdoping der DDR, sondern parallel dazu. Was das für den westdeutschen Sport bedeutet hat und was noch aufgeklärt werden muss, erklärt Giselher Spitzer im Interview.

Herr Spitzer, gab es Ihrer Studie zufolge in der BRD systematisches Doping?

Giselher Spitzer: Wir sprechen nicht von "systematischem Doping", sondern von "systemischem Doping". Das heißt von einem Zusammenwirken von staatlich finanzierter Dopingforschung und der sich daraus ergebenden Möglichkeit, dieses Wissen anzuwenden. Den Begriff "systematisches Doping" haben wir nicht gebraucht. Dazu müsste auch weiter geforscht werden, um genau festlegen zu können, wann wie viele Sportler gedopt waren.

Was ist in der Praxis der Unterschied?

Letztlich lag in der Bundesrepublik die Entscheidungsfreiheit bei den Athleten und Athletinnen. Es gab die Möglichkeit, Doping abzulehnen. Aber – das muss man ganz klar sagen – es wurde ein indirekter Druck auf die Sportler und Sportlerinnen ausgeübt. Sinngemäß haben zahlreiche Trainer gesagt: "Nimm das oder jenes – sonst hast du keine Chance!" Dazu haben wir auch zahlreiche Zeitzeugen-Aussagen und gewichten diese in der Studie auch.

Gleichzeitig wurden aber Steuergelder für die Forschung mit Dopingmitteln eingesetzt.

Das ist das Wesentliche an unserer Studie. Wir haben herausgefunden, in welcher Weise an Dopingmitteln geforscht wurde und wo die Übergänge von der Forschung an Dopingmitteln und ihrer Anwendung im Sport lagen. Doping im Westen ist aber nicht mit dem Doping-System in der DDR zu vergleichen, weil hier der direkte Dopingzwang fehlte. Auf der anderen Seite haben wir feststellen können, dass nach Gründung des BISp 1970 schnell Forschungsergebnisse über die Gesundheitsgefährdung beispielsweise von Anabolika vorgelegt wurden. Diese negative Seite der Forschungen mit Steroiden wurde vom BISp aber nicht angemessen kommuniziert.

Das heißt, dass die gesundheitsgefährdende Wirkung von Dopingmitteln ganz gezielt verschwiegen wurde?

Meiner Überzeugung nach: Ja - das geben die wenigen erhaltenen Akten her. Die Entscheidungsträger, beispielsweise aus der Sport–Pädagogik, sind nicht adäquat über die Risiken und Nebenwirkungen von Doping informiert worden. Genau da wurde ethisch verwerflich gehandelt. Übrigens ging das BISp dieser Spur, also Gesundheitsgefahren, offensichtlich nicht mehr weiter nach.

Akten zur staatsfinanzierten Dopingforschung wurden vernichtet

Welche Sportarten sind von dem zumindest geduldeten Doping betroffen?

Da kann ich nur auf unsere Forschung verweisen. Das haben wir sehr differenziert auf 800 Seiten dargelegt. Generell ist es aber sehr schwer, den ganzen Umfang der Dopinganwendung im Westen Deutschlands aufzudecken – vor allem weil die Aktenlage über die genaue Verbreitung von Doping sehr spärlich ist.

Warum?

Die amtlich geführten Akten des BISp zu anwendungsorientierten Forschungen mit Dopingsubstanzen haben zumindest 1991 noch komplett vorgelegen, weil sie intern zur Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der SPD ausgewertet wurden. Diese Original-Unterlagen wurden jedoch fast vollständig geschreddert. Das können wir inzwischen nachweisen: Die "Main-Post" und die "Märkische Oderzeitung" haben gerade erst im Bundesarchiv erhaltene Schriftstücke veröffentlicht, die das ganze Ausmaß und die ganze Brisanz zeigen. Sie bestätigen einerseits unsere Ergebnisse, werfen jedoch Licht auf Inhalte, die bis heute verschleiert worden sind.

Worum geht es in den Schriftstücken?

Beispielsweise um die Insulinverwendung Anfang der 70er Jahre zu Dopingzwecken, um Wachstumshormone, um die Einflussnahme auf das Hormonsystem der Frau und um tödliche Tierexperimente von Humanmedizinern, die mit Bundesmitteln finanziert wurden. Das fordert neue Anstrengungen des Sports, vielleicht am besten im Auftrag des Deutschen Bundestages: Wir müssen eine Ersatzüberlieferung finden für die vernichteten BISp-Akten, die ja ähnlich brisant sein dürften wie die Schriftstücke, die gerade von der "Main-Post" und der "Märkischen Oderzeitung" recherchiert worden sind. Im Übrigen interessiert mich, wer die Originalakten zu Dopingforschungen mit Staatsfinanzierung vernichtet hat. Das muss geklärt werden – politisch wie rechtlich.

Wann kommt die ganze Wahrheit ans Licht?

Der Abschlussbericht zu Ihrer aktuellen Studie liegt dem BISp schon länger vor. Warum wurde er bisher nicht veröffentlicht?

Die genauen Gründe kenne ich nicht. An mich wurden lediglich Datenschutzbedenken herangetragen. Wir haben aber Texte eingereicht, die aus unserer Sicht keine Datenschutzprobleme enthalten. Insofern ist das kein Argument, das mich überzeugt. Das BMI hat sich am Samstag laut Medienberichten aber korrigiert und hat nun endlich die Position der Berliner Forschungsgruppe übernommen.

Das BISp spielt den Ball an Sie zurück und sagte laut "SZ", dass "die Veröffentlichung (…) ausschließlich in der Verantwortung der Forschungsnehmer liegt."

Das geht ja an der Sache vorbei: Unser Auftraggeber ist das BISp, das 550.000 Euro für das in Berlin und Münster durchgeführte Projekt zur Verfügung gestellt hat. Die Forschung ist nun beendet und die unter Federführung der Humboldt-Universität zusammengestellten gemeinsamen Berichte liegen seit dem Frühjahr vor. Und jetzt veröffentlicht sie unser Auftraggeber nicht. Das ist nicht hinnehmbar. Ich fordere deshalb vom Vertragspartner BISp einen verbindlichen, baldigen Veröffentlichungstermin.

Über Teile Ihres Forschungsprojekts sind Zwischenberichte veröffentlicht worden. Ein Ergebnis ist, dass seit 1949 über all die Jahrzehnte hinweg der Einsatz von Dopingmitteln im Sport erforscht wird. Kann man daraus Rückschlüsse auf heute ziehen?

Ja und nein – Strukturen, die 1990 bestanden haben, könnten schließlich heute noch Bestand haben, was wir jedoch mangels Fortzahlung der Fördermittel nicht erforschen konnten. Wir konnten bisher lediglich zwei Phasen untersuchen, einmal die Zeit zwischen 1950 und 1972 Jahren und dann die Zeit von damals bis 1991. Eine der Überraschungen im Projekt war, dass es eine Dopingforschung und damit auch eine Anwendung bereits seit Gründung der Bundesrepublik 1949 gab, also schon viel früher als bisher angenommen. Zunächst wurde vor allem mit Aufputschmitteln gedopt, dann seit Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre vermehrt mit Anabolika. Zum Ende – unser Bericht geht bis etwa 1991 – wurde diskutiert, welche Rolle das Testosteron, gewissermaßen als Nachfolger der Anabolika, spielen könnte – auch wieder im Rahmen eines BISp-finanzierten Auftrags.

Warum wird das ursprünglich auch noch die Jahre 1991 bis 2005 umfassende Forschungsprojekt nicht mehr weiter finanziert?

Das kann ich Ihnen als Wissenschaftler und Koordinator einer Forschungsgruppe mit Spezialisten für Geschichte, Ethik und Soziologie nicht beantworten. Eigentlich hätte es im dritten Teil beispielsweise um das Dopingkontrollsystem, die Veränderungen durch die Konfrontation mit den ostdeutschen Strukturen und die Spätfolgen von Doping bei Athleten gehen sollen. Dass ein gut laufendes Forschungsprojekt abgebrochen wird, habe ich so auch noch nicht erlebt. Die Fragen bleiben schließlich bestehen.

Der Sporthistoriker Giselher Spitzer wuchs in Essen auf, studierte in Bonn. 1994 wechselte er an die Universität Potsdam in den Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports. Seitdem widmet er sich der Forschung auf diesem Gebiet. Der Autor und Privatdozent an der Humboldt Universität zu Berlin gehörte bis März 2012 zum Team des Projekts "Doping in Deutschland von 1950 bis heute" des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp).
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