Skateboarding gehört 2024 in Paris zum zweiten Mal zum olympischen Programm. Mit Lilly Stoephasius und Tyler Edtmayer sind auch zwei Deutsche am Start. Wie stehen ihre Chancen? Was macht die Faszination des Sports aus? Und wie groß ist der Olympia-Effekt? Darüber haben wir mit einem deutschen Skateboard-Pionier gesprochen.
Herr Kuhn, die ersten Skater-Wettbewerbe fanden vor schöner Kulisse statt, viele Zuschauer waren da: Wie haben Ihnen die Wettbewerbe gefallen?
Hans-Jürgen Kuhn: Die Spiele von Paris geben einem die Hoffnung, dass die IOC-Regeln etwas fortschrittlicher interpretiert werden könnten und Aspekte wie ökologische Fragen, Nachhaltigkeit beim Bau von Infrastruktur und Sportanlagen und Urbanität einen höheren Stellenwert erhalten gegenüber den letzten Spielen unter Diktatorenregimes. Es macht Hoffnung, dass man nochmal eine andere Kultur etablieren kann. Da haben die Franzosen Maßstäbe gesetzt mit der Öffnung zur Stadt und dem Umfeld und mit einem Versuch, die Spiele möglichst nachhaltig zu organisieren. Wenn die US-Amerikaner das im Jahr 2028 fortführen, kann man die Hoffnung haben, dass wir dann doch erheblich weiter sind und einige kritische Aspekte gut gelöst werden können. Der Place de la Concorde ist einfach genial, um die Stadtgesellschaft und die Besucher direkt teilhaben und die Athletinnen und Athleten nicht in geschlossenen Arenen oder abgeschotteten Bereichen abseits der Öffentlichkeit auftreten zu lassen.
Das kommt dem Skater-Spirit wahrscheinlich sehr nahe, oder?
Einerseits ja, andererseits bleibt die Gestaltung der Arena, das ganze Wettkampfverfahren und die ganze Politik, die der internationale Dachverband World Skate gemacht hat, mit merkwürdigen Eingriffen in den Qualifikationsprozess, nach wie vor fragwürdig. Im Kern ist das eine Veranstaltung für die Show und für eine kleine Gruppe von Profis, die sowieso in dem Zirkus ihr Geld verdienen. Dem Sport an sich gibt das keine großen Impulse.
Was macht die Sportart denn aus?
Die Faszination ist, dass trotz der Regelhaftigkeit, die man einführen musste, damit eine Sportart weltweit vergleichbar bewertet werden kann, jeder Skatepark anders designt ist. Man muss sich auf jeden Park neu einstellen und keiner kennt ihn vorher. Manche kommen damit gut klar, manche nicht so gut. Das sorgt für eine gewisse Unsicherheit. Jemand, der super fährt, kann in so einem neuen Park, wo er ein paar Tage Trainingszeit eingeräumt bekommt, möglicherweise Schwierigkeiten bekommen. Das macht den Reiz aus. Man weiß nie, wer am Ende gewinnt, weil es eben auch Stürze gibt, mentale Probleme, Konzentrationsprobleme bei der Ausführung der Tricks. Außerdem ist das Ganze für die Zuschauer eine konsumierbare Spannung. Der Run dauert 45 Sekunden, mehr Konzentration braucht man nicht. Dann kann man sich entspannen und schauen, was die Jury daraus macht. Die Zuschauer können allerdings selten erkennen, wer der Bessere war. Da muss man schon Fachmann sein. Ich würde mir das auch nicht mehr zutrauen angesichts der ständig neuen Tricks, die kreiert werden.
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Die Szene hatte von Anfang an ein ambivalentes Verhältnis zu Olympia. Hat sich das verbessert in den vergangenen Jahren?
Es gibt so etwas wie eine Normalität, ein Nebeneinander weitgehend entkoppelter Szenen. Das kann man zumindest für Deutschland so klar sagen. Hier ist es für die Masse der Skater, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, nicht besonders wichtig, ob es diese zwei Wochen gibt, in denen einige Weltstars gegeneinander antreten und das dann Olympische Spiele heißt. Das bringt weder Leute zum Skateboard-Sport, noch zieht es sie weg. Die Skate-Wettbewerbe sind eine Eintagsfliege, das hat keine nachhaltigen Effekte für den Sport. Man betrachtet es mit gemischten Gefühlen und in Deutschland ist eine ganz kleine Gruppe beteiligt, die überhaupt auf dieses Ziel hinarbeitet. Der Bundeskader besteht aus zwölf Sportlern und wie in Tokio haben es nur Lilly Stoephasius und Tyler Edtmayer geschafft, sich in der Park-Disziplin zu qualifizieren. Hinter ihnen klafft eine große Lücke, bei den Frauen ganz besonders.
Hat Olympia beim hiesigen Skaten sonst etwas verändert? Bei der Infrastruktur? Der Mitgliederanzahl?
Von Tokio bis heute hat sich die Zahl der organisierten Skateboarderinnen und Skateboarder, die in einem Verein organisiert sind, der wiederum dem Deutschen Rollsport- und Inline-Verband angeschlossen ist, ein bisschen vergrößert. Aber nicht wegen Olympia, sondern weil es in Deutschland inzwischen mehr Gelegenheiten gibt, auch etwas ambitionierter zu skaten, als nur auf der Straße. Wir können feststellen, dass immer mehr Kommunen erkannt haben, dass es für ihre Jugendlichen und jungen Erwachsenen Sinn macht, nicht nur Basketball-Drahtkörbe irgendwo aufzustellen, sondern auch einen Skatepark zu bauen. Und dann gibt es die kleine Contest-Kultur. Und das erhöht die Mitgliederzahlen auch in einem Verein. Aber da ist wegen Olympia kein Boom, das stagniert im Bereich von rund 5.000 Skatern, die in Deutschland in einem Verein im nationalen Verband organisiert sind. Das wird durch Olympia nicht sonderlich befeuert, sondern eher durch die eigenen Aktivitäten in Deutschland, die aber in der Regel gar nicht unter dem Leistungssportfokus durchgeführt wurden.
Mit dem Leistungssport können sich viele Skater nicht identifizieren. Hat sich denn da etwas verändert?
Es gibt den Versuch des Deutschen Rollsport- und Inline-Verbandes, Vereine zu finden und zu motivieren, Nachwuchsleistungssport und Talentsuche zu betreiben. Aber das ist nach wie vor auf sehr bescheidenem Niveau. Es gibt einen einzigen Landesstützpunkt in Deutschland mit einem bezahlten Landestrainer in Brandenburg. Und das vor allem deshalb, weil in Brandenburg die Chance besteht, dass wir 2030 mal einen Bundesstützpunkt Skateboard bekommen, der von World Skate auch zertifiziert werden könnte als Austragungsort für internationale Contests.
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Hinter Lilly und Tyler klafft eine Lücke. Da ist nicht so wahnsinnig viel Bewegung, dass man denkt: "Boah, für Los Angeles haben wir dann endlich mal die Superstars." Nein, es werden möglicherweise auch Tyler und Lilly wieder in Los Angeles 2028 starten, wenn sie weiter trainieren. Das können sie durchaus schaffen, wenn sie ihr Niveau weiter steigern. Aber ich sehe dahinter nicht so große Entwicklungen. Wir werden weiterhin nicht konkurrieren können mit den USA, mit Japan, mit Brasilien, mit England oder Australien. Das sind die Top-Nationen in beiden Disziplinen, Street und Park. Das sieht man an dem Starterfeld für Paris. Da sind wir leistungsmäßig weit, weit von entfernt.
Was fehlt zur Weltspitze?
Tyler ist jetzt 23. Das ist vom Alter her doch schon relativ weit, wenn man sich das Feld anschaut. Da herrscht ein riesiger Leistungsunterschied, und der hängt auch mit dem Alter zusammen. Tyler hat auch nicht die Trainingsmöglichkeiten, die andere Sportler in anderen Ländern haben. Lilly ist in einem guten Alter, sie ist 17 und kann sich weiter verbessern, wenn sie weiter gut trainiert und auch Gelegenheiten hat, die erforderlichen Tricks zu trainieren. Es braucht eine bestimmte Höhe für einen Trick, bestimmte Anlaufflächen, bestimmte Stufensets. Wenn man das alles nicht hat, kann man einen bestimmten Trick, der viele Punkte bringt, nicht trainieren. Man muss den Trick am Original trainieren können, um ihn zu beherrschen, und dafür fehlen in Deutschland immer noch die Anlagen.
Wenn nur wenige Skater organisiert sind: Wie groß ist die Sportart denn in Deutschland?
Das geht schon in die Hunderttausende. Möglicherweise sind es sogar weit über eine Million Menschen, die regelmäßig mit dem Skateboard unterwegs sind. Und es auch vielfältig nutzen. Mal als Mobilitätswerkzeug auf dem Weg zur Schule, das machen Kinder und Jugendliche oft im Sommer, oder einfach so, um sich von A nach B zu bewegen. Oder eben auch systematisch, indem sie Skateparks aufsuchen, aktiv skaten und auch an Contests teilnehmen.
Können Sie denn in dem Bereich feststellen, ob das mehr geworden ist? Dass der Sport selbst vielleicht eine Art Zulauf erfahren hat, wenn auch nicht in organisierter Form?
Ja, das glaube ich schon. Das ist jetzt zwar ein subjektiver Eindruck, aber viele Fachwarte in anderen Ländern, mit denen man sich austauscht, können es bestätigen, dass mehr Leute skaten und dass immer, wenn irgendwo ein neuer Park gebaut wird, der auch voll ist. In Deutschland sind viele Gegenden noch völlig unterversorgt, was Skateparks angeht. Da sehe ich schon noch Potenzial, diese Sportart mit ihrem Fokus auf Breitensport und Lebensgefühl auszuweiten. Das Segment "normierte leistungssportliche Ambitionen", das bleibt ganz schmal. Da sehe ich auch keine Änderung, weil das nicht zur DNA dieses Sports gehört. Das ist wie beim Breaking. Die erleben jetzt auch gerade eine unglaubliche Anpassung an Regeln und Vorgaben und das ist vielen aus der Szene ebenfalls völlig suspekt. Und es finden auch nicht alle gut, dass Breaking inszeniert wird unter Regelwerken, unter Rahmenbedingungen, die nicht der Alltagskultur von Breakern entsprechen. Das ist der gleiche Prozess wie bei uns.
Ich habe mich zuletzt mit Vartan Bassil unterhalten, dem künstlerischen Leiter der Breaking-Gruppe "Flying Steps". Er steht dem Ganzen positiv gegenüber, weil dadurch Strukturen geschaffen werden, die möglicherweise mehr Athleten ermöglichen, vom Sport zu leben und dann mehr zu trainieren, wodurch dann auch die Qualität gesteigert wird.
Auch die Skater haben auf den Effekt gehofft. Und in einem bescheidenen Umfang ist er auch eingetreten. Für das Frauenskaten war die olympische Eingliederung von Skateboarding sicherlich ein Gewinn. Es gab eine Teil-Professionalisierung, auch in Deutschland, es gibt die Sporthilfe und die Möglichkeit, leichter Sponsoren zu finden. World Skate hat von Beginn an das Equal-Pay-Prinzip durchgesetzt. Das ist auch nicht selbstverständlich, im Fußball bis heute nicht. Das ist der sichtbarste Effekt. Bei den Männern hatten sich die großen Brands schon vorher ihre eigenen Teams großgezogen. Für die ändert sich nicht so wahnsinnig viel.
Man kann den Breakern nur wünschen, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die später mehr davon leben können. Aber das wird die große Szene der Breaker auch nicht tangieren. Das bleibt nach wie vor ein Street-Sport und eher unter dem Radar der Medien, denn die verlieren nach Olympia ihr Interesse an der Berichterstattung. Das haben wir bei uns auch gesehen. Ausnahme war, dass Lilly in Tokio mit 14 Jahren die jüngste deutsche Teilnehmerin war. Das war der Aufhänger, aber was sie da macht, wie gut sie fährt oder warum sie nicht gut genug fährt, um unter die Top acht zu kommen, hat die Medien nicht wirklich interessiert. Für die war nur wichtig, dass sie die jüngste Deutsche ever war. Lilly ist jetzt 17, der Effekt ist also auch verbraucht. Insofern bin ich gespannt, inwieweit da überhaupt noch groß Berichterstattung gemacht wird.
Wie geht sie selbst mit dem medialen Druck um oder hat der inzwischen merklich nachgelassen?
Der mediale Druck hat vermutlich nachgelassen, weil sie in dem Altersbereich ist, wo sich die meisten tummeln. Das gibt keinen Bonus. Sie ist eine attraktive, redegewandte, eloquente Interviewpartnerin. Und da sie die einzige deutsche Frau ist, die in der Sportart bei uns dabei ist, ist das natürlich noch ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn es die Berlinerin Jilou Rasul beim Breaking nach Paris geschafft hätte, wäre es ihr sehr ähnlich gegangen.
Das Bittere ist, dass Breaking 2028 schon nicht mehr dabei sein wird. Das steht fest, obwohl sie noch gar nicht aufgetreten sind in Paris.
Das ist ein Zirkus, bei dem das IOC mit ein paar neuen Highlights versucht, Interesse zu wecken und Jugendlichkeit zu suggerieren. Dahinter steht aber eigentlich kein wirklicher Strukturwandel im olympischen Sport, sondern das sind einfach Add-ons, kleine Sahnehäubchen, um zu versuchen, Anschluss zu finden an eine nachwachsende Generation, die keine Lust hat, verschiedene Gewichtsklasse im Ringen oder 20 Kilometer Gehen anzuschauen.
Die Skater sorgen in Paris für Unterhaltung und Schlagzeilen. Wie zum Beispiel durch den Mittelfinger von Jhancarlos Gonzalez für die Spider Cam oder weil Minna Stess im Dorf angeschrien wurde, weil sie mit dem Skateboard gefahren ist. Wie ticken Skater?
Da gibt es Profis, die wissen, dass sie bestimmte Verhaltensweisen in diesem olympischen Kontext beachten müssen. Sie sind sehr stark eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, mediale Posts und etwas für ihre Werbepartner abzusetzen. Das finden die schräg, denn das sind alles strenge Reglements. Einige halten sich daran und wissen, dass das jetzt nicht geht. Andere sind sicherlich etwas unbekümmerter und vielleicht auch regelverletzender und pflegen einfach auch andere Verhaltensweisen. Aber das unterscheidet sich sicherlich auch nochmal deutlich zwischen den Nationen. Alle wissen, dass sie im Wettkampf nicht kiffen dürfen, weil CBD unter die Doping-Verordnung fällt. Es werden einige nicht schlimm finden, dass sie drei Wochen vor den Spielen aufhören mussten, mal einen Joint zu rauchen. Die Laune ist bei denen sicherlich trotzdem ungebrochen.
Die 14 Jahre alte Coco Yoshizawa aus Japan hat Gold im Street-Wettbewerb geholt. Die jüngste Teilnehmerin in der Park-Disziplin ist gar erst elf Jahre alt…
Das ist Wahnsinn. Wir haben eine Altersspanne von 11 bis 22 bei den Park-Fahrerinnen. Und dazwischen tummeln sich noch ein paar 13- und 14-Jährige. Ich halte das nicht für gesund. Wir haben das auch in der Nationalen Skateboard-Kommission besprochen, dass wir es sinnvoll finden würden, wenn es ein Mindestalter von 16 Jahren geben würde. Denn alles andere ist unter kinder- und jugendpsychologischen Aspekten doch sehr fragwürdig. Die Elfjährige hat schon ein paar Jahre trainieren und sich dem Olympia-Reglement im Training unterwerfen müssen. Auch die 13-Jährigen oder 14-Jährigen, die da rumhüpfen, sind mindestens seit ihrem zehnten Lebensjahr dabei, sonst wären die heute nicht auf dem Niveau.
Welche Medaillen-Chancen haben denn die deutschen Teilnehmer im Park-Wettbewerb, Lilly Stoephasius und Tyler Edtmayer?
Keine. Keine auf eine Medaille und wohl auch nicht auf die Top acht. Lilly hätte mit ein bisschen Glück die Chance, dass sie unter die Top acht kommt. Sie steht auf Platz 15 in der Rangfolge der Teilnehmerinnen für Olympia. Wenn sie es schafft, sieben Konkurrentinnen zu überholen, wäre es das Maximum, das sie erreichen kann, glaube ich. Das Leistungsgefälle ist wirklich riesig. Die Ranglisten-Führende Cocona Hiraki hat knapp 500.000 Punkte. Ruby Drew liegt als Achte bei fast 200.000 Punkten. Und Lilly bei 84.000 Punkten. Das wird richtig schwer. Um ins Finale zu kommen, müsste sie super Ergebnisse und ein bisschen Glück haben. Alle Tricks, die sie drauf hat, müsste sie perfekt stehen und die Jury müsste das auch anerkennen und dementsprechend werten. Tyler hat es noch schwerer. Er ist als Vorletzter noch reingerutscht in das Team der Teilnehmenden und steht da auf Platz 21. Mal schauen, was er da hinbekommt.
Über den Gesprächspartner
- Hans-Jürgen Kuhn war in Deutschland Skateboarder der ersten Stunde, er hat in Berlin 1977 den ersten Verein gegründet. Auf nationaler Ebene war er viele Jahre Vorsitzender der Sportkommission Skateboard im DRIV, heute gehört er für Berlin der Skateboard-Kommission an.
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