Simone Biles ist zurück. Nach ihrem mentalen Zusammenbruch bei den Olympischen Spielen in Tokio geht sie in Paris wieder als Favoritin an den Start und unterstreicht damit ihre Ausnahme-Persönlichkeit.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Sabrina Schäfer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wer ist "The Goat" – The greatest of all time, der oder die Größte aller Zeiten? Kaum eine Frage wird in den verschiedensten Sportarten so leidenschaftlich diskutiert wie die nach dem Superlativ. Blickt man auf die Olympischen Spiele, kann es nur eine Antwort geben: Simone Biles.

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Ihre Erfolge sind unglaublich: 37 internationale Medaillen hat Simone Biles im Verlauf ihrer Karriere geholt, darunter vier Goldmedaillen bei Olympia. Und es wären wohl noch mehr, hätten nicht mentale Probleme dazu geführt, dass Biles bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 den Großteil ihrer Wettbewerbe absagen musste. Nur am Schwebebalken holte sie damals Bronze.

Der Zusammenbruch

Es war das erste Mal, dass die Welt Biles scheitern sah. Wobei "scheitern" bei mentalen Problemen wohl das falsche Wort ist. Vielmehr sah die Welt zum ersten Mal den Menschen Simone Biles und nicht nur die Turnerin, die bis dato scheinbar ohne größere Anstrengungen durchs Leben getanzt war. Die selbst die schwierigsten Übungen, mehrfache Salti, Umdrehungen, bei denen dem Publikum schon beim Zuschauen schwindlig wurde, leicht aussehen ließ. Deren Goldmedaillen einfach eingeplant waren.

Simone Biles in Zahlen

  • Größe: 1,42 Meter
  • Alter: 27 Jahre (*14. März 1997)
  • Olympische Medaillen: 4x Gold, 1x Silber, 2x Bronze
  • Weltmeisterschaften: 23x Gold, 4x Silber, 3x Bronze

Doch in Tokio wollte ihr Kopf nicht mehr. Zu viel hatte sich in Biles' Leben zugetragen, zu viel war offenbar unaufgearbeitet geblieben. Der Druck auf die Sportlerin, aber auch auf den Menschen zu groß geworden. "Wenn man schaut, was ich in den letzten sieben Jahren alles durchgemacht habe, hätte ich nie wieder zum Olympia-Team gehören dürfen", sagte sie 2021 nach ihrem Zusammenbruch dem Online-Magazin "The Cut". "Ich hätte schon lange vor Tokio aufhören sollen."

Der Mensch hinter den Erfolgen

Simone Biles hatte keinen einfachen Start ins Leben. Ihre leibliche Mutter war schwer drogenabhängig und nicht in der Lage, für ihre vier Kinder zu sorgen. Simone und ihre jüngere Schwester Adria wurden von ihren Großeltern Ron und Nellie adoptiert. Simone nennt sie "Mum" und "Dad", sie begleiten sie bei allen Wettkämpfen, nur in Tokio waren sie aufgrund der Corona-Einschränkungen nicht dabei.

In der Netflix-Doku "Simone Biles - Wie ein Phönix aus der Asche" spricht Biles' "Mum" darüber, wie wichtig es Simone sei, dass sie ihr vor dem Wettkampf die Haare mache. Dass sie das in Tokio nicht tun konnte, beschäftigt Nellie offenbar bis heute.

Wenn sie von den letzten sieben Jahren vor Olympia 2021 spricht, meint Biles jedoch etwas anderes. 2016 war Biles' Stern bei den Olympischen Spielen von Rio de Janeiro international aufgegangen. Vier Goldmedaillen gewann sie damals und die Welt staunte über diese 1,42 Meter große Person und ihre Fähigkeiten.

Nur zwei Jahre später kam heraus, dass sie und viele ihrer Teamkolleginnen jahrelang Opfer der perfiden Machenschaften des Teamarztes Larry Nassar gewesen waren. Dieser hatte Turnerinnen unter dem Deckmantel medizinischer Untersuchungen sexuell missbraucht, frühere Anzeigen gegen ihn verliefen im Nichts, der US-Turnverband schützte seine Sportlerinnen nicht. Erst als mehrere Turnerinnen mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit gehen, landet Nassar vor Gericht. Aktuell sitzt er eine Haftstrafe zwischen 40 und 175 Jahren ab.

"Ich wollte nicht zulassen, dass er mir etwas wegnimmt, wofür ich hart gearbeitete habe, seit ich sechs Jahre alt war."

Simone Biles über Larry Nassar

Biles wurde aufgrund ihres Bekanntheitsgrades damals zum Gesicht des Prozesses gegen Nassar. Sie erhob öffentlich schwere Vorwürfe gegen den US-Turnverband, aber auch gegen das FBI, weil es viel zu lange gedauert habe, bis die Vorwürfe gegen Nassar zu Konsequenzen geführt hätten.

"Es war zu viel. Aber ich wollte nicht zulassen, dass er mir etwas wegnimmt, wofür ich hart gearbeitet habe, seit ich sechs Jahre alt war", sagte Biles damals gegenüber "The Cut". Daher habe sie das so lange verdrängt, "wie mein Geist und mein Körper es mir erlaubten".

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Auch mit Rassismus hatte Biles immer wieder zu kämpfen. In einem Interview 2020 teilte sie in der "Today Show" erstmals ihre erste Erfahrung mit Rassismus, die bereits im Jahr 2013 stattgefunden hatte. "Es war auf einer Weltbühne und was es in die Schlagzeilen schaffte, war, dass eine andere Turnerin sagte, dass, wenn sie sich schwarz anmalen würden, dann würden sie alles gewinnen, weil ich sie am Schwebebalken geschlagen hatte und sie sauer war. Und das waren die Schlagzeilen und nicht, dass ich Weltmeisterin geworden war."

In einem noch immer von Weißen dominierten Sport sticht Biles schon immer heraus. Ihre Haare werden kommentiert, ihre Hautfarbe. Und sie setzt sich dem Ganzen immer wieder aus, spricht sich offen gegen Rassismus aus, lässt nichts auf sich sitzen. Auch das kostet Kraft.

Die "Twisties"

Und dann kamen 2021 die "Twisties", dieses putzige Wort, das ein so schreckliches Gefühl für Turnerinnen beschreibt. Das Gefühl, in der Luft nicht mehr zu wissen, wo man sich befindet. Ein Gefühl, das Todesangst auslösen kann. Ein falscher Sprung kann im Turnen fatale Folgen haben. "Es ist ehrlich gesagt angsteinflößend, wenn man etwas machen möchte, aber Körper und Geist nicht in Einklang sind", schrieb Biles damals in einer Instagram-Story.

Für Paris hat sie sich zurückgekämpft. In ihrer Netflix-Doku wird klar, wie schwer und oft angstbehaftet dieser Weg für Biles war. Erst durch die Arbeit an den Basics kam das Vertrauen in ihr eigenes Können, ihre Stärke zurück.

Im Oktober 2023 gibt sie ihr Comeback bei den Weltmeisterschaften in Antwerpen und zeigt dort sofort ein neues Element, den "Biles II": eine Radwende auf das Sprungbrett, Flic-Flac auf den Tisch mit anschließendem Doppelsalto rückwärts. Es ist bereits das fünfte Element, das nach ihr benannt ist. Punktabzug gibt es nur, weil ihr Trainer Laurent Landi für eine mögliche Hilfestellung neben der Matte stehen bleibt. Es ist der einzige kleine Hinweis darauf, dass Biles vielleicht doch noch mit Unsicherheiten kämpft.

Rein sportlich ist sie nicht angreifbar, das wird sie wohl auch in Paris zeigen, wo sie als absolute Favoritin in die Turnwettbewerbe starten kann. Sie wirkt gelöst, froh, wieder dabei zu sein und noch einmal bei Olympia ihren Goat-Status untermauern zu dürfen. Nach Tokio dachte sie, ihre Karriere wäre vorbei, erzählt sie in der Netflix-Doku. Aber das wäre ihr dann doch zu tragisch gewesen.

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