Wer bei den Olympischen Spielen Reitsport verfolgt, kommt an Carsten Sostmeier nicht vorbei. Der 64-Jährige versteht es mal wieder, die Zuschauer auf besondere Art und Weise in diese Sportart zu ziehen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wenn Carsten Sostmeier anfängt zu sprechen, fühlt man sich wohl. Wie zu Hause, könnte man fast sagen. Es ist ein bisschen so, wie es in der Kindheit war, wenn der Papa eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hat. Man lauscht den Worten konzentriert und fasziniert, driftet weg, hinein in eine andere Welt.

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Sostmeier zieht den Zuhörer nahezu unbemerkt in eine Sportart, die nicht nur immer wieder mit Kritik und Skandalen zu kämpfen hat, sondern zum Beispiel in der Dressur auch mit dem Vorwurf, langweilig und langatmig zu sein. Und mit Begriffen wie Pirouette, Traversale, Piaffe oder Passage auch etwas unzugänglich.

Doch Sostmeiers Stimme legt sich unaufdringlich unter die Bilder. Die zunächst sonore Zurückhaltung, kombiniert mit einer gemäßigten Lautstärke, ist erst der Aufgalopp in eine immer blumigere und flottere Ballade der Wortakrobatik, mit der es der 64-Jährige versteht, die Reitkunst auch als solche zu verkaufen.

Alle vier Jahre, wenn die Olympischen Spiele über die Bühne gehen, fiebern deshalb wieder zahlreiche "Modefans" mit Michael Jung, Isabell Werth oder Jessica von Bredow-Werndl mit. Auch dank Sostmeier.

Mit Sostmeier auf das Pferd

Denn er schafft es, den Zuschauer in gewisser Weise auf das Pferd zu hieven, damit er daheim vor seinem TV-Bildschirm mit Tier und Reiter eine Art Symbiose bilden kann, damit er quasi mitreiten kann. Augen zu und ab durch den Springreit-Parcours oder das Dressurviereck. Für ein besseres Verständnis der Geschehnisse, oder des besonderen Verhältnisses zwischen Reiter und Pferd, auch in umstrittenen Disziplinen wie der Vielseitigkeit.

So wird eine Nähe erzeugt, eine Umgebung, die dabei hilft, sich einer Sportart, die nicht den einfachsten Zugang bietet, schneller zu nähern.

Dabei ließ Sostmeier in Paris die aktuell schwierige Situation des Pferdesports nach den jüngsten Skandalen nicht außen vor, beschönigte die Situation nicht, sondern musste sich mit Kritik an den Übeltätern "wirklich zurückhalten. Perfektes Reiten geht nur, wenn man Pferde auch perfekt behandelt und auch Respekt hat vor der Konkurrenz. Aber in erster Linie vor seinem hippologischen Unterteil. Nur so kann ein Pferd einem Reiter auch in einem höheren Lebensjahr noch eine solche tolle Leistung in der Kooperationsbereitschaft und nicht nur in der blinden Unterordnung schenken", sagte er. Weiter betonte er nach dem Goldritt von Vielseitigkeitsreiter Michael Jung, man rede "über ein Miteinander, über ein Paar, über eine Symbiose und nicht etwa über eine hippologische Sklaverei".

Lob für feinfühlige Werth

Werth lobte er im Dressur-Mannschaftswettbewerb für ihr "feinfühliges Reiten" mit Wendy. "Das, was ich machen kann im Sattel über meine Gewichtshilfen, über mein Gesäß, über mein Kreuz, über die Schenkel und die Zügel, das wird hier optimal umgesetzt, denn es heißt Hilfengebung. Der Begriff darf nie verwechselt werden im Sattel mit Zwangsmaßnahmen, denn sonst wird es nie im Ansatz so schön leicht und harmonisch ausschauen".

Sostmeier bekommt es hin, dass das Sportliche durch seine Worte verständlich, aber auch lebendig wird. Wenn die "Stimme des Pferdesports" (Sostmeier über Sostmeier) emotional wird, bricht schon mal die Stimme weg, dann galoppiert er verbal davon, dann fließen auch Tränen. Die Gesamtkomposition ist ein echtes Unikat, denn es gibt ganz wenige Kommentatoren, die ihre Leidenschaft, ihr Wissen und ihren Wortschatz so kombinieren können, dass sie untrennbar mit einer Sportart verbunden sind.

Sostmeier, der einst von "Sportschau"-Mitbegründer Addi Furler entdeckt wurde, erhielt bereits nach den Spielen 2004 den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie "Beste Sportsendung" und wurde 2005 für den Grimme-Preis nominiert. Dabei verriet er vor einigen Jahren mal in der "Bild"-Zeitung: "Ein Deutschlehrer benotete meine Aufsätze mit dem Satz 'Mit Rücksicht auf die Eltern noch vier'."

Sostmeier taucht in einen Tunnel ein

Sein Erfolgsgeheimnis? Vielleicht, dass er gar keines hat. Sostmeier verrät in der "Fuldaer Zeitung", dass er sich "nichts aufschreibt, sondern in einen Tunnel eintaucht. Ich bin glücklich, wenn ich Menschen abholen kann, vielleicht auch mit dieser Poesie. Aber das überrascht mich selbst manchmal, wenn ich aus diesem Traum herauskomme und mich frage: Was habe ich da gerade überhaupt erzählt?"

Grundsätzlich sei man als Sportreporter nur so gut mit seiner Leistung, wie es das Ereignis sei, so Sostmeier: "Wir machen das Ereignis ja nicht zu dem, was es ist, sondern das Ereignis macht uns zu dem, was wir sind. Der glücklichste Moment für mich ist, dass ich es begleiten darf."

In Paris hatte er schon einige glückliche Momente. Jungs Ritt zu Gold sei ein "hippologischer Vollgenuss vor royaler Kulisse" gewesen, sagte er. "Chapeau, Chapeau, Chapeau! Boah, was für eine Tour d‘honneur der Emotionen, die förmlich in unsere Herzen galoppiert", sagte Sostmeier und seine Stimme überschlug sich. Dann gibt es diese Momente, in denen er ausnahmsweise mal nach den richtigen Worten sucht. "Freunde, das ist unglaublich, das ist unglaublich. Ich werd' verrückt hier. Er holt das hier sowas von fokussiert mit diesem fantastischen Pferd nach Hause."

Auf faszinierende Art und Weise fesselnd

Und beim Mannschaftsgold in der Dressur, das zu einem echten Krimi wurde, wurden die Zuschauer verbal behutsam durch den Nervenkitzel-Auftritt von von Bredow-Werndl und Dalera getragen. Auf faszinierende Art und Weise ist es fesselnd, wenn er Dalera anspornt: "Komm, tanze nur weiter. Sei nicht aufgeregt, lass dich locker hineinfließen in diese Piaffe, die leider Gottes vom Einstieg, aber auch über den nicht ganz so glücklich gelungenen versammelten Schritt in Mitleidenschaft gezogen wurde".

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Man muss dazu wissen: Sostmeier hat auch schon mal ordentlich danebengelegen. Mit seiner Aussage "… seit 2008 wird zurückgeritten. Wir holen uns Gold zurück, gnadenlos" bei den Olympischen Spielen 2012 musste er wegen der Ähnlichkeit zu Äußerungen von Adolf Hitler eine Menge Kritik einstecken, er entschuldigte sich. So auch 2016, als er bei einem Auftritt von Olympia-Debütantin Julia Krajewski meinte, sie habe "von Anfang an einen braunen Strich in der Hose".

Bei der Kür in seinem Element

Sonntag war er mal wieder in seinem Element, bei Gold und Silber in der Kür. "Bella, Bella, Isabell Werth gewinnt Einzel-Silber. Das ist unwahrscheinlich berührend emotional. Wann erleben wir solche Geschenke, die uns die Pferde hier bereiten", sagte Sostmeier. "Ich drück' mich mal kurz weg", fügte er hinzu und war kurz nicht mehr zu hören. "Das ist ein Moment für die Ewigkeit und den dürfen wir gemeinsam erleben. Das ist das Geschenk einer Wendy und der besten Dressurreiterin aller Zeiten, Isabell Werth."

Und Goldgewinnerin von Bredow-Werndl und ihre Dalera seien "ein absoluter Genuss. Sie liefern in einer solchen Perfektion. Und Dalera, so kommt es einem vor, schenkt ihre Beine der Reiterin zum gemeinsamen Tanz". Man habe das Gefühl, "im Gesicht der Stute ein Lächeln zu erkennen, was förmlich die Sonne ins Dressurviereck zaubert."

Ähnlich wie es Sostmeier bei den Zuschauern schafft, die durch ihn mit zu Gold und Silber getragen wurden. Die gute Nachricht: Ein Ende dieser oft so märchenhaften Monologe ist nicht in Sicht. "So lange die Krankenkasse noch nicht dafür bezahlen muss, dass ich das Mikrofon ein- oder ausschalten kann, mache ich gerne noch weiter", sagte Sostmeier. Und das noch in Paris, denn am Dienstag wollen die Springreiter noch eine Medaille.

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