Was haben Reiner Calmund, Silbermond und Jesus gemeinsam? Wenn Sie jetzt "nichts" sagen, haben Sie vollkommen recht. Zumindest hatten Sie das bis zum Mittwochabend. Da stellte RTL nämlich aus solchen Zutaten die Passionsgeschichte nach. In einem Live-Event. Aus Essen. Und Pop-Hits. Nun ja.

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Man dürfte bei RTL nicht böse gewesen sein, wenn manche Zuschauer bei der Ankündigung, der Sender werde die Passionsgeschichte in einem Live-Event aus Essen auf die Bühne bringen, ein bisschen skeptisch gewesen sind. Denn blickt man auf die reinen Fakten, dann kann einem tatsächlich Angst und Bange werden: die Passionsgeschichte, RTL, auf dem Burgplatz in Essen, in modernem Gewand, Alexander Klaws als Jesus und Thomas Gottschalk als Erzähler, untermalt von deutschen Popsongs und mit Reiner Calmund, Nelson Müller und Tanja Szewczenko auf der Besetzungsliste.

Alleine diese Schlagwörter lassen sich im Freundeskreis und in der richtigen Stimmung zu einer Kalauer-Kaskade durchkombinieren. Nimmt man noch die Wörter "Kreuz" und "Leidensweg" dazu, bekommt man sogar einen ganzen Abend gefüllt. Das scheint man auch bei RTL geahnt zu haben und so pfeift Thomas Gottschalk auf der Bühne in Essen schon einmal im Walde: "Braucht das noch jemand? Noch dazu bei RTL?", fragt Gottschalk rhetorisch und antwortet sich dann selbst: "Auch ich hab mich das gefragt und Sie werden sehen: Es geht. Es geht sogar sehr gut, wenn man sich auf die Geschichte einlässt."

Spätestens hier hört man schon gehässige Kommentare bei Twitter mit den Hufen scharren, aber es wäre zu billig, nur anhand der Ausgangslage das Ganze bereits schlechtzureden. Ob RTL und seinen Zuschauern mit "Die Passion" einen Gefallen getan hat, muss man anhand des Anspruchs beurteilen, den RTL an sich und die Produktion gestellt hat und hier listet Thomas Gottschalk gleich eine Reihe von Gründen auf, warum es "Die Passion" gibt und warum in dieser Form.

"Die Passion": eine Geschichte "die für alle gilt"

"Jedes Kind kennt den Osterhasen, aber fragen Sie ihren Nachwuchs mal, was in der Karwoche passiert ist", beginnt Gottschalk und erklärt weiter: "Trotzdem und vielleicht gerade deswegen erzählen wir Ihnen heute in neuer Form die alte Geschichte." RTL als Service-Dienstleister des Christentums mit Thomas Gottschalk als bescheidenem Arbeiter im Moderationsweinberg des Herrn. Dass sich RTL zur Aufgabe gemacht hat, mit einer modernen Version der Ostergeschichte verloren gegangene Schäflein wieder in die Kirchen des Landes zu treiben, überrascht doch sehr.

Plausibler ist da schon Gottschalks zweite Begründung: "Es geht um Freundschaft, um Liebe, Verrat und Leid, aber auch um Hoffnung, Zuversicht und Vergebung. Themen, die heute wahrscheinlich aktueller sind, als jemals zuvor." Man wolle aber weder ein "frommes Märchen" erzählen noch einen "Gottesdienst feiern", sondern eine Geschichte erzählen, "die für alle gilt" und die "nichts von ihrer Dringlichkeit verloren hat, vor allem in diesen Tagen des Krieges."

Nun kann man hier eine gewisse Angst heraus lesen, mit der Ostergeschichte jemanden zu langweilen oder gar zu verschrecken. Wahrscheinlicher ist aber tatsächlich der Wunsch, mit der Geschichte, so wie sie RTL erzählen will und wird, vielleicht doch ein bisschen Verbindendes und Hoffnungsvolles in die Welt zu tragen, so, dass jeder es verstehen kann. Doch auch wenn Gottschalks Vermutung mit dem Nachwuchs und der Karwoche der Wahrheit entsprechen sollte, dürfte doch zumindest das Ende der Ostergeschichte bekannt sein. Dementsprechend ist für eine Beurteilung von RTLs "Passion" nicht das Was entscheidend, sondern das Wie.

"Die Passion": Wenn Jesus mit dem Bus fährt

"Wir erzählen die Ostergeschichte in einer neuen Form durch bekannte Popsongs, im Look von 2022. Reloaded, sozusagen", erklärt Thomas Gottschalk dem Zuschauer und das sieht dann so aus: Thomas Gottschalk steht auf der Bühne auf dem Essener Burgplatz und erzählt die Eckpunkte der Passionsgeschichte. Hinter ihm eine weißgewandete Live-Band mit ebenso weißem Chor. Irgendwo in Essen trifft sich Jesus (Alexander Klaws) mit seinen Jüngern, darunter Mark Keller als Judas und Laith Al-Deen als Petrus, um zum Pessach-Fest nach Jerusalem (also Essen) zu reisen.

Während sich die Jünger mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Essen bewegen, betrachtet Jesus’ Mutter Maria (Ella Endlich) die Ankunft ihres Sohnes von der Bühne aus. Die Geschichte, die Gottschalk erzählt, ist in Szenen aufgeteilt. Gottschalk leitet ein, das eigentliche Geschehen spielen dann Klaws und Co. mit kurzen Dialogen, vor allem aber mit den angekündigten deutschen Popsongs. Dazwischen schalten RTL und Gottschalk immer mal wieder rüber zu Moderatorin Annett Möller, die einen kleinen Prozessionszug anführt, der ein über 200 Kilo schweres Leuchtkreuz auf einem drei Kilometer langen Weg zur Burgplatz-Bühne trägt.

Nun kann man an dieser Stelle erst einmal festhalten, dass RTL und die Produktionsfirma Constantin Entertainment doch reichlich Aufwand betrieben haben und sie haben es aus dramaturgischer Sicht mit Verstand gemacht. Kurze Szenen, die die wesentlichen Handlungsfäden miteinander verknüpfen, dazwischen ein Erzähler, der den Rahmen liefert. Dass eine Prozession zur Passionsgeschichte gehört, erscheint auch nicht ganz abwegig. In Bezug auf den Aufbau und die Dramaturgie kann man der RTL-Produktion eigentlich keinen Vorwurf machen. Anders sieht es dagegen bei der Umsetzung aus.

"Wir haben jetzt die Rüttenscheider Schlemmermeile verlassen"

Moderner wollte man sein und die Geschichte so erzählen, "als würde sie so heute Abend hier in Essen passieren." Dagegen spricht ja nun erst einmal nichts, nur ist der Produktion beim Wort "modern" offenbar vor allem "Popsongs" eingefallen. Und so stellen die Darsteller um Alexander Klaws den Leidensweg Christi eben mit dem nach, was so in den vergangenen Jahren an Deutschpop in den Charts war: Zur Ankunft in Essen gibt’s Andreas Bouranis "Auf uns", Ella Endlich in der Rolle der Maria singt für ihren Jesus "Wie schön du bist" von Sarah Connor, beim letzten Abendmahl stimmen die Jünger ein "Hinterm Horizont geht’s weiter" an und Judas und Jesus gehen mit Silbermonds "Symphonie" auseinander. "Die Passion", das ist die Andreasbouranisierung der Bibel.

Ist es das, was Thomas Gottschalk mit "Es geht. Es geht sogar sehr gut" meinte? Nun. Es ist ja nicht so, dass deutsche Popsongs mit einem Übermaß an inhaltlicher Präzision daherkommen. In jedem zweiten deutschen Lied geht es um Verzweiflung, Hoffnung und natürlich um die Liebe. Mit anderen Worten: Da kann man alles hineininterpretieren, warum dann also nicht auch die Passionsgeschichte? Weil es wegen genau dieser Beliebigkeit eben dann doch nicht passt. Man hat nicht Andreas Bouranis "Auf uns" genommen, weil sich damit so gut die Passionsgeschichte erzählen lässt, sondern weil es einfach ist.

Das klappt dann trotzdem sogar manchmal ganz gut, manchmal wirkt es aber auch einfach nur unfreiwillig komisch. Ein Schicksal, dass Annett Möller mit ihrem Prozessionszug teilt. Die Menschen, die das Kreuz tragen, haben zwar alle eine Geschichte zu erzählen, wie sie es mit dem Glauben halten und das eine oder andere Mal ist das auch berührend. Doch wenn sich Annett Möller für einen Zwischenbericht mit den Worten meldet "Wir haben jetzt die Rüttenscheider Schlemmermeile verlassen", dann ist der Prozessionszauber nur in dem Moment schneller verflogen als am Essener Willy-Brandt-Platz das McDonalds-M im Hintergrund mit dem RTL-Kreuz um die Wette leuchtet.

"Die Passion": Calli, Currywurst und Jesus

RTL, das merkt man in diesen zwei Stunden deutlich, wollte mit "Die Passion" wirklich die Leidensgeschichte Jesu mit Ernsthaftigkeit und Würde darstellen und zwar so, dass diese Geschichte auch noch nach 2.000 Jahren ankommt. Aber es sind Szenen wie diese, in denen das Fernsehexperiment ins Wanken gerät. Auch weil man sich nicht so ganz vom üblichen Privatfernsehen-Prozedere lösen kann und Thomas Gottschalk mit einem "In unserer Passionsgeschichte sehen sie gleich, wie Jesus zum Tode verurteilt wird und wie sich seine Mutter von ihm verabschieden soll" in die Werbung abgibt. Da ist man nur froh, dass RTL hier auf ein Gewinnspiel verzichtet hat.

Nicht mehr lustig, sondern ärgerlich wird es dann, wenn Gottschalk und RTL das Ganze dann ohne Not selbst nicht mehr ernst nehmen. Etwa, wenn Gottschalk allen Ernstes über die damalige Begeisterung für Jesus sagt: "Heute würde man sagen: Er ist ein erfolgreicher Influencer." Bibis Beauty Palace, Pamela Reif, Jesus – wer kennt schon den Unterschied? Noch unangenehmer sind da nur noch die Auftritte von Reiner Calmund, der am Frittenstand von Nelson Müller seine Currywurst isst, als Jesus dort das Brot fürs letzte Abendmahl holt. Das ist so unnötig wie ein drittes Nasenloch und man fragt sich, ob sich RTL mit dieser Klamauk-Einlage selbst boykottieren will.

Und so erreichen irgendwann in einer Mischung aus ernsthaftem Willen, unfreiwilliger Komik und anbiederndem Niedrighumor das Kreuz und Jesus den Essener Burgplatz, wo Henning Baum als Pontius Pilatus sein Urteil fällt und die Geschichte ihrem Ende entgegen führt. An dem steht Alexander Klaws in weißem Gewand, mit ausgebreiteten Armen und einem zu ernsten Gesicht hoch oben auf einem Dach am Essener Burgplatz und singt "Halt dich an mir fest" von Revolverheld. Und wie er da so singt, schwankt man zwischen dem Wissen, dass man die Passion Christi sicher auch so verstanden hätte und der Erkenntnis, dass es noch viel, viel schlimmer hätte kommen können.

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