Italien. Der Angstgegner. Schlimmer hätte es für die deutsche Nationalmannschaft kaum kommen können. Die "Squadra Azzurra", deutscher Viertelfinalgegner bei der EM 2016, ist unberechenbar, ein Alptraum in der Spielvorbereitung. Für Joachim Löw ist es aber auch die einmalige Chance, ein ewiges Trauma aus der Welt zu schaffen. Vielleicht sind die Italiener ja mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
In den viel zitierten Geschichtsbüchern muss niemand mehr blättern. Das Internet verrät dem geneigten Fan alles, was er über die Rivalität zwischen Deutschland und Italien wissen muss. Hier wie da lassen sich die alten Geschichten und Mythen finden: das Jahrhundertspiel von Mexiko 1970, das WM-Finale zwölf Jahre später. Das Drama im WM-Halbfinale dahoam und natürlich das Aus zuletzt bei der Europameisterschaft in Polen.
Acht Spiele hat Deutschland bei großen Turnieren gegen Italien absolviert und kein einziges davon gewonnen. Im Gegenteil: Einige der schlimmsten Niederlagen der deutschen Fußballgeschichte hat die "Squadra Azzurra" herbeigeführt. Es gibt keine andere Mannschaft auf der Welt, auf die das Prädikat "Angstgegner" so treffend passt.
Die Klischees über Italiens Nationalmannschaft wurden längst überholt
Am kommenden Samstag ist es also wieder so weit. Bis dahin wird an der Hysterieschraube gedreht, die üblichen Geschichten ausgegraben. Dabei stimmen die Klischees schon lange nicht mehr. Mit italienischen Nationalmannschaften von früher hat diese Mannschaft allenfalls noch das blaue Trikot gemein. "Wir haben bewiesen, dass wir nicht nur Catenaccio können", sagt Antonio Conte. Und der muss es wissen.
Italien bei diesem Turnier ist mehr als blanker Zynismus und eine Eiseskälte vor dem gegnerischen Tor. Die Italiener stellen die älteste Mannschaft des Turniers, die großen Figuren der letzten Jahre sind nicht mehr dabei. Oder sie sind verletzt, wie Claudio Marchisio oder Marco Verratti, zwei der besten Mittelfeldspieler der Welt. Und die Serie A hat international erneut eine enttäuschende Saison hingelegt. Ohne Übertreibung könnte man behaupten, dass die Vorzeichen nicht die allerbesten waren.
Erinnerungen an 2006
Nur sollte man mittlerweile besonders dann stutzig werden, wenn die Italiener mit dem Rücken zur Wand stehen. Denn das bringt offenbar das Beste aus ihnen hervor. Man erinnere sich an die WM 2006 in Deutschland, als es in Italien wegen des Manipulationsskandals nur so schepperte - und die Mannschaft in Deutschland doch den Titel holte.
Beim 2:0-Achtelfinalsieg gegen Spanien waren die Italiener dem Gegner taktisch haushoch überlegen. Das spanische Ballbesitzspiel kam nie in Fahrt, die Angriffe des Titelverteidigers zerschellten spätestens an der Fünferkette der Italiener. Mit der 3-5-2-Grundordnung kam Spanien zum wiederholten Mal überhaupt nicht zurecht. Bereits vor zwei Jahren verlor Spanien bei der WM gegen die Niederlande und Chile in der Vorrunde - beide Teams begegneten der "Furia Roja" mit einem 3-5-2-System.
"Wir spielen einen typisch italienischen Stil. Das ist nicht immer besonders schön. Aber wir finden in den schwierigen Momenten die richtigen Antworten", sagt Angreifer Graziano Pellè.
Traumabewältigung für Löw
Es wird auch eine Art Traumabewältigung werden für
"Es ist schon imponierend, wie Italien spielt", sagte Löw unmittelbar nach dem Sieg der Italiener über Spanien. "Italien hat Spieler, die in der Defensive geschult sind, aber auch tolle Offensivspieler, schnelle Konter. Sie spielen klasse nach vorne, das hat man gegen Spanien auch gesehen."
Italien umgeht die gelbe Gefahr
Und wie schlau und konzentriert die Italiener spielen können, hat man ebenfalls gesehen. Gleich zehn Spieler waren vor der Partie gegen Spanien mit einer Gelben Karte vorbelastet, darunter die komplette Abwehr mit der Dreierkette Barzagli-Bonucci-Chiellini und Torhüter Gigi Buffon. Es hätte in einem Fiasko enden können gegen die Ballbesitzmaschine Spanien, selbst wenn Italien doch irgendwie eine Runde weiterkommt.
Aber dann spielt die Mannschaft so cool und fokussiert und leistet sich ein einziges dummes Foul im ganzen Spiel. Thiago Motta holte sich dafür die zweite Gelbe Karte ab. Die restlichen neun Spieler sind gegen Deutschland mit dabei. Auch das ist ein Zeichen von Reife und Stärke. "Ich glaube, dass die bislang besten Mannschaften des Turniers jetzt gegeneinander spielen", sagt Joachim Löw.
In den kommenden Tagen wird es rauchen in den Rechenzentren der Sporthochschule Köln, wo fleißige Helfer aus ein paar Terabyte an Informationen über Italien die wichtigsten rausfiltern und dann der deutschen Scoutingabteilung um Christofer Clemens zuspielen. Und nachher spielt der Gegner doch wieder ganz anders.
"Deutschland ist der Favorit"
Das Duell am Wochenende wird auch ein Spiel der Systeme und der Trainer. Italien ist kaum auszurechnen, von starrer Verteidigungshaltung bis hin zu flüssigem Kombinationsfußball kann die Mannschaft nahezu alles. Das Team ist topfit (gegen Spanien acht Kilometer mehr gelaufen), es bringt die richtige Mentalität mit und das Selbstvertrauen zu wissen, dass es jede Mannschaft der Welt schlagen kann. Auch den Weltmeister.
"Deutschland ist der Favorit, wir spielen gegen die mit Abstand beste Mannschaft dieses Turniers", behauptet Conte. Er schiebt der DFB-Auswahl bewusst die Favoritenbürde zu, in der Rolle des Außenseiters gefällt sich Italien offenbar am liebsten. Eine Spur Pathos kann da nicht schaden. Eine "titanische Leistung" brauche die "Squadra Azzurra" gegen Deutschland, um zu bestehen, sagt Conte.
Wagt Löw wieder ein Experiment?
Seine Spieler formulieren es eine Spur weniger spektakulär. "Wir müssen 23 Männer sein und unseren Traum verfolgen. Wir sind nicht nur eine Ansammlung von Spielern, sondern eine Mannschaft im wahrsten Wortsinn. Wir werden jetzt unsere Batterien aufladen, um dann mit voller Kraft gegen Deutschland anzutreten", sagt Abwehrchef Bonucci.
Mit "gewöhnlichen" Mitteln wird Italien aus deutscher Sicht kaum beizukommen sein. Die Italiener sind ja so etwas wie die Erfinder der Fußballtaktik. Aber sie sind auf diesem Gebiet auch nicht unverwundbar. Und so wie sie die Belgier und Spanier überrascht haben, könnte man sie im Viertelfinale vielleicht auch überraschen.
Das Testspiel Ende März in München und das 4:1 der deutschen Mannschaft sollte einen Anhaltspunkt geliefert haben. Nicht des Ergebnisses wegen, den Italienern fehlte damals fast eine komplette erste Mannschaft.
Aber Löw versuchte in diesem Spiel, die Grundformation des Gegners zu spiegeln. Deutschland spielte wie Italien mit einer Dreierkette. Die Italiener, die fast ausschließlich "konventionelle" Systeme ihrer Gegner gewohnt sind, kamen damit überhaupt nicht zurecht. Bleibt nur die Frage, ob sich Löw nach der Erfahrung von Warschau aus dem Jahr 2012 nochmals zu so einem gewagten Manöver hinreißen lässt ...
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