Der Profifußball entwickelt sich seit Jahren zu einem Produkt, das die Fans nie bestellt haben. Trotzdem kehren bislang nur wenige Zuschauer dem Sport den Rücken. Warum?

Eine Analyse
von Marcus Erberich
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marcus Erberich sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wenn man Fußballfans danach fragt, was sie am modernen Fußball nervt, dann schlagen viele von ihnen einen ganzen Katalog voller Probleme auf.

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Da sind zum Beispiel die aberwitzigen Summen, die heute für und an die Profis gezahlt werden. Der Franzose Paul Pogba wechselte im Sommer für die neue Rekordmarke von 105 Millionen Euro von Juventus Turin zu Manchester United; angeblich verdient der 23-Jährige dort pro Woche mehr als 300.000 Euro.

In Deutschland wurde eine vergleichbare Dimension bislang zwar nicht erreicht. Aber auch hier klafft zwischen den Lebensrealitäten der Spieler und der Fans eine riesige Lücke, der eine Identifikation mit den "Helden" von heute für viele unmöglich macht.

Da sind Manager und Funktionäre, die an der in Deutschland geltenden "50+1"-Regel sägen. Diese soll verhindern, dass Investoren die Mehrheit an Vereinen übernehmen können. Die Befürchtung vieler Fans ist, dass ein auf Profit ausgerichteter Investor Entscheidungen womöglich nicht zum Wohl des Klubs treffen könnte, sondern um eigene wirtschaftliche Interessen voran zu treiben.

Wieder ist das Negativbeispiel der englische Spitzenfußball, wo fast alle Klubs in der Hand superreicher Eigentümer liegen. Dort trieb das bereits hässliche Blüten: Klubs wurden umbenannt, umgesiedelt, bekamen neue Farben und Wappen – alles zum Zweck der vermeintlich besseren Vermarktung und meist gegen den Willen der Fans.

Und nicht zuletzt ist da die zunehmende Abwertung der aktiven Fans. Ein Beispiel dafür ist die immer stärkere Zerfaserung der Liga-Spieltage zugunsten des Bezahl-Fernsehens. Oft geschieht diese zulasten derjenigen, die den Fußball im Stadion erleben wollen. So wurde etwa am zehnten Bundesliga-Spieltag die Begegnung Hertha BSC gegen Borussia Mönchengladbach im Berliner Olympiastadion an einem Freitagabend angepfiffen – beide Städte trennen knapp 600 Kilometer Autobahn.

Volle Stadien trotz vieler Probleme

Die kompromisslose Kommerzialisierung, gepaart mit Korruption in einigen Fußballverbänden und -gremien, hat zu einer Entfremdung von großen Teilen der Fans geführt, für die Fußball mehr ist – oder mal war – als ein Hobby.

Trotzdem sind in Deutschland Wochenende für Wochenende die meisten Stadien der ersten und zweiten Liga ausverkauft. Laut einer Erhebung des Portals "Statista" verzeichneten 14 von 18 der aktuellen Bundesliga-Vereine nach acht Spieltagen eine Stadion-Auslastung von 90 oder mehr Prozent. Und der DFB gibt an, dass in der vergangenen Saison insgesamt knapp 13 Millionen Menschen in die Stadien der ersten Bundesliga strömten – im Schnitt 42.421 pro Spiel.

Wie passt das zusammen? Professor Harald Lange ist Inhaber des Lehrstuhls für Sportwissenschaft und Leiter des Instituts für Fankultur an der Universität Würzburg. Auf Anfrage sagt er: "Es ist zu beobachten, dass die Fankultur sich mehr oder weniger austauscht. Es werden immer mehr Menschen angezogen, darunter aber auch immer mehr Menschen aus dem Segment der sogenannten Bezahl-Zuschauer." Der Fußball werde mehr und mehr zum Entertainment für die Massen, wodurch Werte wie Tradition, Leidenschaft und emotionale Gebundenheit, die zentral sind für den harten Kern der Fans, immer unbedeutender würden.

Das Ereignis Profifußball wird in der breiten Öffentlichkeit immer intensiver zelebriert, das Fernsehen jazzt selbst mittelmäßig interessante Partien zu "Spitzenspielen" hoch. Überhaupt kann man heute von einem Überangebot live übertragener Spiele sprechen. Und wegen der exzellenten Vermarktung sind sie das zentrale Gesprächsthema während der gesamten Woche, weshalb sich kaum jemand dem Fußball mehr entziehen könne, erklärt Lange: "Das führt dazu, dass man dieses Fußballprodukt immer weiter und immer mehr kommerzialisieren und gleichzeitig immer tiefer in der Gesellschaft verankern kann."

Protestfans gehen lieber zu den Amateuren

Vereinzelt haben Fans in den vergangenen Jahren damit begonnen, dem Milliarden-Geschäft Profifußball den Rücken zu kehren. Bei den meisten großen Vereinen gibt es heute Gruppen, die lieber zu ihren Amateuren gehen statt zu den Profis. Oft sind das Ultras, für die Kommerz das Feindbild Nummer eins ist. Andere pilgern statt in die modernen Arenen der Bundesliga zu kleinen Sportplätzen in der Nachbarschaft. Immer auf der Suche nach dem "wahren" Fußball, um den sie sich betrogen fühlen – weit weg von Business-Logen, Lachshäppchen und gesponserter Rasentemperatur.

Wieder andere gründen eigene Klubs als Gegenentwurf zum modernen Fußball. Ein Beispiel dafür ist der HFC Falke in Hamburg, den desillusionierte Fans des Hamburger SV vor der Saison 2015/16 gegründet haben.

In einem Statement auf der Website des Fan-Vereins heißt es: "Die allgemeine Entwicklung des professionellen Fußballs, gerade in den letzten 15 Jahren, hat leider nun auch unsere Heimat eingeholt." Und an einer anderen Stelle im Text: "Ja, wir resignieren derzeit wegen dieser Entwicklung, aber unsere Liebe zu diesem Sport und zum gemeinsamen Vereinsleben wollen wir nicht aufgeben."

Zu den Spielen des HFC kamen im Schnitt der vergangenen Saison 500 Fans – obwohl, oder besser: weil der Verein in der untersten Liga Hamburgs starten musste.

Mit einer massenhaften Abkehr vom Profifußball rechnet Professor Lange in Deutschland jedoch nicht – zumindest nicht in absehbarer Zeit: "Weil der Fußball auch dann, wenn er sich in Richtung Entertainment entwickelt, alle gesellschaftlichen Kreise in seinen Bann zieht – auch die eingefleischten Fans."

Nur wenn im deutschen Fußball soziale Hürden aufgebaut würden, wie beispielsweise in England durch extrem teure Eintrittskarten, könnte es eine erhebliche Abwanderung dieser Menschen aus den Stadien geben, glaubt Lange: "Dann sucht man natürlich nach Alternativen und findet sich vielleicht bei Klubs wieder, die ein anderes Programm anbieten." Auf der Insel kann sich ein einfacher Arbeiter nämlich oft die Eintrittskarte zu seinem Lieblingsverein nicht mehr leisten.

Projektionsfläche für die eigene Identität

Bis auf Weiteres werden die Fans dem Profifußball also treu bleiben. Jedenfalls die meisten. Und auch ihren Vereinen, selbst wenn diese zum Teil zu globalen Marken mutiert sind. Die vereinsübergreifende Interessengemeinschaft "Unsere Kurve" arbeitet seit 2005 in verschiedenen Projekten für den Erhalt der Fankultur. Auf Anfrage sagt ein Sprecher: "Der Fußball nimmt für viele Fans einen ganz wesentlichen Bestandteil ihres Lebens ein. Und die Abkehr von einem wichtigen Teil des Lebens ist keine Entscheidung, die man gerne trifft. Manch einer verpasst da vielleicht einfach den Absprung, auch wenn man sich eigentlich schon entfremdet hat."

Diese Einschätzung teilt auch Professor Lange, der sagt: "Ein Fußballverein ist für Fans identitätsstiftend. Man gehört dazu, man geht mit dem Verein auf und ab. Die Gefühlslage, die Stimmung, das Wissen, woher man kommt – das gibt vielen Fans Halt."

Es gebe in der Gesellschaft zwar mehrere identitätsstiftende Faktoren, darunter auch den Arbeitsplatz. "Aber soziologische Studien zeigen, dass in den letzten 15 bis 20 Jahren die Bedeutung des Arbeitsplatzes ein Stück weit zurückgegangen ist. Der Fußballverein ist in Zeiten von 'Hire and Fire' einfach langlebiger."

Der Deal ist denkbar einfach: Die Fans liefern ihren Klubs Geld. Vor allem diejenigen, die sich binden, sind hinsichtlich ihrer Treue berechenbar und deshalb für die Vereine so etwas wie eine sichere Aktie. Als Gegenleistung liefert der Verein ihnen Emotionen, das Gefühl von Zusammengehörigkeit und eine Projektionsfläche für ihre soziale und regionale Identität. Eine zunehmende Abwanderung von Fans, die sich im Stadion nicht mehr repräsentiert fühlen, könnte diese Abmachung jedoch gefährden.

Vereine müssen Frustration ernst nehmen

Für die Vereine wäre das ein herber Verlust. Der "Unsere Kurve"-Sprecher erklärt, ein Fan – im Gegensatz zum distanzierten Zuschauer – bringe schließlich mehr als nur Geld mit: "Er hat Leidenschaft, ist leidensfähiger und macht seine Bindung nicht von Erfolg abhängig. Er denkt auch mal über die 90 Minuten hinaus, blickt hinter die Kulissen oder hinterfragt Fehlentwicklungen."

Zudem nutzen die meisten Vereine die von den Fans erzeugte Atmosphäre im Stadion als markenprägendes Element – die "Gelbe Wand" im Stadion von Borussia Dortmund ist nicht nur für Fans in Deutschland ein Sehnsuchtsort. Der Verlust dieser Stimmung hätte folglich auch wirtschaftliche Nachteile. "Durch die Abwanderung zu den Amateuren entstehen Lücken, die von den sogenannten Event-Fans gefüllt werden", sagt der Sprecher. "Das Ganze ist ein schleichender Prozess, der sich immer weiter verschlimmert. Irgendwann wird es dann bei der Stimmung bemerkbar. Aber bis dahin wird es wohl noch etwas dauern."

Was können Fans dem langsamen Zerbröseln der Fankultur entgegensetzen? Professor Lange von der Universität Würzburg sagt: "Sie müssen sie leben. Sie müssen sich identifizieren und sich mit ihrer Emotionalität und Leidenschaft daran binden." Umgekehrt müssen Verbände und Vereine die wachsende Frustration in den Kurven ernst nehmen, mahnt Lange. Denn sollte die Fankultur wirklich einmal wegbrechen, dann wäre sie endgültig weg: "Und ohne die Fans würde es diesen ganzen Fußballzirkus überhaupt nicht geben."

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