• Eine allgemeine Impfpflicht wurde lange von Politikern verschiedener Parteien vehement ausgeschlossen, nun soll sie doch kommen.
  • Aber warum die anfängliche "Ausschließeritis", als der weitere Verlauf der Pandemie noch völlig unvorhersehbar schien?
  • Ein Politikberater und ein Politikwissenschaftler geben Antworten und haben einen klaren Appell an die Politik.

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Die Liste derjenigen, die die Impfpflicht ausgeschlossen haben, ist lang: "Ich habe im Bundestag mein Wort gegeben: In dieser Pandemie wird es keine Impfpflicht geben", hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Februar gesagt, auch Olaf Scholz (SPD) hatte beteuert: "Wir haben jetzt keine Impfpflicht und wollen sie auch nicht einführen."

Ebenso Wolfgang Schäuble (CDU): "Wir brauchen die Bereitschaft der Menschen, sich impfen zu lassen. Aber eine Impfpflicht wird es nicht geben. Das will niemand, der Verantwortung trägt" und Heiko Maas (SPD): "Die wird’s nicht geben" – sie sei nicht notwendig und es gäbe verfassungsrechtliche Schwierigkeiten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der designierte SPD-Chef Lars Klingbeil (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatten ihr Wort gegeben: Keine allgemeine Impfpflicht in Deutschland.

Impfpflicht: Umgefallen, Wort gebrochen?

Nun: Ein völlig anderes Bild. "Lassen Sie uns in Deutschland endlich eine Impfpflicht einführen – wir müssen eine Entscheidung für die Zukunft für unser Land fällen" – Zitat Markus Söder bei seiner Regierungserklärung in München am Dienstag. Seine Meinung geändert hat auch der künftige Kanzler Olaf Scholz (SPD): "Ich werde einem solchen Gesetz zustimmen", sagte Scholz am Dienstagabend in den ARD-"Tagesthemen". Die Impfpflicht könnte im Februar oder März nächsten Jahres in Kraft treten.

Umgefallen, Wort gebrochen? So einfach ist es nicht, auch wenn es zweifellos ein Hin und Her in der Impfpflicht-Debatte gibt. "Politik muss sich an gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren – und die können sich ändern", sagt Politikberater Martin Fuchs im Gespräch mit unserer Redaktion.

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Experte: "Handeln in Unsicherheit"

Die Impfpflicht sei damals so vehement ausgeschlossen worden, "um eine gewisse Beruhigung in der Bevölkerung zu erreichen". Man habe "Spaltung und Verunsicherung in der größten Krise, die Deutschland in den vergangenen 70 Jahren erlebt hat" nicht vorantreiben wollen.

Auch Politikwissenschaftler Ricardo Kaufer betont gegenüber unserer Redaktion: "Das Handeln der Parteien unter Pandemiebedingungen ist ein Handeln in Unsicherheit". Sie müssten ad hoc auf neue Forschungserkenntnisse und Zahlen reagieren. "Deshalb verändern die Parteien auch ihre Positionen", sagt er. Dabei sei aber zwischen Kernüberzeugungen einer Partei und eher peripheren Überzeugungen zu bestimmten politischen Maßnahmen zu unterscheiden.

Motiv: Angst vor Polarisierung

Kaufer erläutert: "Kernüberzeugung der Regierungsparteien ist beispielsweise seit Beginn, dass die Schulen möglichst geschont bleiben sollen, während die Impfpflicht-Debatte eher ein peripheres Thema war." Haben sich Politiker nicht dennoch unnötig in Bedrängnis gebracht, in dem sie zu Beginn der Pandemie ohne Wissen über den weiteren Verlauf der allgemeinen Impfpflicht eine Absage erteilten?

Aus Sicht von Kaufer kann es für die stattgefundene "Ausschließeritis" verschiedene Motive gegeben haben. "Zum einen spielt sicherlich die Angst vor der Polarisierung anhand dieses Themas durch die rechten Parteien eine Rolle, zum anderen die Überzeugung der Regierungsparteien, dass die Impfpflicht ein nicht verhältnismäßiges Instrument zur Bekämpfung der Pandemie sei", so der Experte.

Änderung der Ansichten: Andere Fehlerkultur nötig

Heißt: Vor wenigen Monaten erachteten die Parteienvertreter die Impfpflicht tatsächlich noch als unverhältnismäßiges Instrument – angesichts der aktuellen pandemischen Lage hat eine Neubewertung stattgefunden. "Man kann den meisten Politikern trotzdem einen entscheidenden Fehler ankreiden", meint Politikberater Fuchs. Dieser sei alter und neuer Regierung gleichermaßen vorzuwerfen.

"Es hätte eine andere Fehlerkultur gebraucht", meint Fuchs. Die Politik hätte von Anfang an betonen müssen, dass sich Rahmenbedingungen und Informationsstände änderten. "Man hätte sich auch frühzeitiger bei der Bevölkerung entschuldigen müssen", sagt er.

Kritik aus dem rechten Spektrum

Winfried Kretschmann (Grüne) hatte zumindest Ende Juli weitsichtig eingeräumt: "Wir planen keine Impfpflicht. Für alle Zeiten kann ich eine Impfpflicht nicht ausschließen. Es ist möglich, dass Varianten auftreten, die das erforderlich machen." Auch der designierte Vize-Kanzler Robert Habeck (Grüne) muss keine komplette Kehrtwende hinlegen: Er sagte im August lediglich, es gebe "bessere Möglichkeiten" als eine Impfpflicht, die "noch gar nicht ausgeschöpft" seien und die Politik müsse zunächst auf andere Mittel setzen.

Pauschal von "der Politik" zu sprechen, die nun ihr Wort bricht, halten beide Experten für falsch. "Nicht alle Parteien haben eine Impfpflicht gleichermaßen ausgeschlossen", sagt Kaufer und auch Fuchs erinnert: "Die schärfste Kritik kommt jetzt aus dem rechten Spektrum, Akteure wie Wissenschaft und Medienvertreter haben von Beginn an gesagt, dass wir anerkennen müssen, dass die Situation unbekannt ist und es einen Wandel der Positionen geben kann." Ihre Stimmen seien nicht ausreichend gehört worden.

Getrieben von lautstarker Minderheit wie den "Querdenkern"?

Fuchs glaubt nicht, dass die Politik sich zu der Aussage von einer kleinen, aber lauten Minderheit wie den "Querdenkern" hat drängen lassen, der Großteil der Kritik sei nun aber berechtigt. "Es gibt bereits sektorale Impfpflichten, aber eine Pflicht ist immer erst der letzte Ausweg – wir versuchen in Deutschland vorher Vieles über Selbstverpflichtungen zu lösen", analysiert er.

Einen Rat für die Zukunft haben die Experten dennoch: "Bei der Bewältigung von politischen Herausforderungen unbekannten Ausmaßes ergibt es Sinn, Maßnahmen nicht von vornherein auszuschließen", sagt Kaufer.

Keine Ansagen im Schwarz-Weiß-Schema

Allerdings stünden die Parteien in einem Wettbewerb – sie müssten an ihren Kernüberzeugungen festhalten und gleichzeitig Wähler mobilisieren. "Dadurch befinden sie sich in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen dem Festhalten an Kernüberzeugungen und dem Adaptieren an neue Situationen", erklärt der Experte.

Laut Experte Fuchs braucht die Bevölkerung dennoch klare Ansagen, viele seien verunsichert und nervlich am Ende. "Die Ansagen dürfen aber nicht in einem Schwarz-Weiß-Schema formuliert sein", mahnt er. Schließlich könne man nicht voraussehen welche Inzidenzen, Mutationen oder Dynamiken noch entstünden.

Vertrauensverlust durch Hin und Her?

Das Verhalten der Politiker ist damit hinreichend erklärt – bleibt die Frage: Wie groß wird der politische Schaden durch das Hin und Her in der Impfpflichtdebatte nun sein? "Die FDP hat sich am stärksten gegen die Impfpflicht gewendet, aber ich glaube nicht, dass sie großen Schaden davontragen wird, wenn sie die Impfpflicht nun mitträgt", argumentiert Kaufer.

Das Gedächtnis der Öffentlichkeit sei relativ kurz, die Bürger würden die regierenden Parteien wohl kaum wegen der Impfpflicht bei den nächsten Wahlen abstrafen. "Die Frage ist, ob die rechtspopulistischen Parteien profitieren werden. Ihre Opposition zur Pandemiepolitik hat ihnen bislang nur ganz leicht verholfen, starke Zugewinne gibt es nicht", sagt er.

Politischer Schaden "unausweichlich"

Fuchs hält politischen Schaden für unausweichlich. "Heiko Maas hat vor wenigen Tagen noch geäußert, es gebe keine Impfpflicht, gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass sie hinten rum schon länger geplant wird – diese Inkohärenz führt zum maximalen Vertrauensverlust in der Bevölkerung", sagt er. Je nach Region in Deutschland dürfte dieser unterschiedlich stark ausfallen.

Weil die rechtspopulistischen Parteien sich selbst nicht einig seien, was sie eigentlich wollten, glaubt Fuchs aber ebenfalls nicht, dass sie Kapital aus der Impfpflicht-Debatte schlagen werden. "Dennoch rechne ich mit einem massiven Vertrauensverlust in die Politik. Die Regierung sollte hier noch ihre Vorschusslorbeeren, die jede neue Regierung zu Beginn hat, nutzen", rät er.

Über die Experten:
Martin Fuchs ist Politikberater. Er berät Regierungen, Parlamente, Parteien, Politiker und Verwaltungen in digitaler Kommunikation. Er ist Dozent für digitale Kommunikation und Politik an verschiedenen Hochschulen.
Dr. Ricardo Kaufer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juniorprofessor für Politische Soziologie am Institut für Politik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Greifwald und Lehrbeauftragter an der European School of Political and Social Sciences (ESPOL), der Katholischen Universität Lille. Kaufer studierte Staats- und Politikwissenschaften.

Verwendete Quellen:

  • Deutschlandfunk: Bundesgesundheitsminister Spahn (CDU) zur Impfdebatte.
  • FAZ: Impfpflicht? Niemals!
  • Tagesschau: Olaf Scholz, Kanzlerkandidat SPD, zu den Plänen für eine allgemeine Impfpflicht.
  • Interview mit Dr. Ricardo Kaufer
  • Interview mit Martin Fuchs
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