Wenn die Spieler und Verantwortlichen des FC Bayern in den Weihnachtstagen das Jahr 2020 Revue passieren lassen, werden sie sich wahrscheinlich gehörig schütteln müssen, um all das zu begreifen, was sie in den vergangenen zwölf Monaten erlebt haben. Dabei bieten die Auswirkungen der Corona-Pandemie allein schon genug Stoff, den es zu verarbeiten gilt. Doch der FC Bayern spielte unter den speziellen Bedingungen mit leeren Stadien und allerhand Auflagen sportlich das vielleicht beste Jahr seiner langen Vereinsgeschichte. Wie ist den Münchnern das gelungen?

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Steffen Meyer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es mag schwer fallen, sich heute in den Januar 2020 zurückzuversetzen. Während Corona höchstens eine Randnotiz aus dem fernen Asien war, stand beim FC Bayern noch nicht einmal fest, ob Hansi Flick nach dem Sommer noch Cheftrainer sein wird. Flick, der im Herbst 2019 von Niko Kovac übernommen hatte, hatte damals gerade mal den Titel des Interimstrainers abgestreift und so zumindest bis zum Saisonende Klarheit.

Mehr Fußballthemen finden Sie hier

Hansi Flick als Schlüsselfigur des FC-Bayern-Erfolgs

Und Flick nutze damals dieses Vertrauen, um die Mannschaft nach seinen Vorstellungen zu formen. Flick verbesserte im Verlauf der ersten Jahreshälfte beinahe alles. Er verpasste der Mannschaft ein modernes, offensiv ausgerichtetes Spielsystem. Er formte ein neues zentrales Mittelfeld um Joshua Kimmich und Leon Goretzka.

Er coachte das Talent Alphonso Davies zum Star. Er verbesserte Spieler wie Kingsley Coman und Benjamin Pavard und verpasste Thomas Müller und Jerome Boateng - von Jogi Löw aussortiert - neues Selbstvertrauen. Flick ist die Schlüsselfigur dieses herausragenden Bayern-Jahres.

Zwischen dem 16. Februar und dem 23. August 2020 - dem Tag des Champions-League-Finals - gewann der FC Bayern jedes seiner 21 Pflichtspiele. Es war eine historische Serie auf dem Weg zu drei Titeln. Neun Mal erzielten die Münchner in dieser Phase vier Tore oder mehr. Ein unglaublicher Run, der im 8:2-Erfolg im Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Barcelona seinen Höhepunkt fand.

Auch wenn Barca in den vergangenen Monaten einiges vom Glanz früherer Tage eingebüßt hat, wird dieses historische 8:2 für immer mit dem Jahr 2020 des FC Bayern verbunden bleiben. Es war für die Münchner das Spiel des Jahres - auch wenn der Titel in der Champions League erst einige Tage später gegen Paris perfekt gemacht wurde.

Im gesamten Jahr 2020 verloren die Münchner nur ein einziges von 48 Spielen. Und das, obwohl der Rekordmeister zum Ende des Jahres sichtbar auf dem Zahnfleisch ging und zuletzt in der Bundesliga sieben Mal in Folge mit 0:1 zurücklag. Auch das ist ein Rekord. Normal war eben nichts in diesem Jahr 2020.

Robert Lewandowski ragt 2020 heraus

So sehr die Münchner das Kollektiv als Basis für die Erfolge betonen, so wenig kommt man dennoch daran vorbei, einen Spieler herauszuheben: Mit 32 Toren in der Bundesliga und acht in der Champions League konnte Robert Lewandowski im Jahr 2020 seine Quote trotz des hohen Niveaus der letzten Jahre noch einmal steigern.

Niemand in Europa traf häufiger - und das obwohl der Mittelstürmer unter Flick so mannschaftsdienlich spielt wie vielleicht noch nie. Die Auszeichnung als Weltfußballer des Jahres war folgerichtig und für Lewandowski auch persönlich die Krönung eines herausragenden Jahres. Er ist der erste Bayern-Spieler, der diese seit 1991 vergebene Auszeichnung erhielt.

Bei all den sportlichen Erfolgen ging fast unter, dass der Klub im Jahr 2020 auch abseits des Platzes einen tiefgreifenden Wandel eingeleitet hat. Zum Jahresbeginn übernahm Oliver Kahn einen Vorstandsposten im Verein. Er soll bald den langjährigen Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge beerben.

Der Klub, der über Jahrzehnte von Rummenigge und Uli Hoeneß geprägt wurde, stellte damit die Weichen im Jahr 2020 auf Zukunft. Auch Hasan Salihamidzic rückte im Verlauf des Jahres in den Vorstand auf. Zwei Veränderungen, die vor allem dank des sportlichen Höhenflugs erstaunlich geräuschlos abliefen und sich in der auch für den FC Bayern schwierigen Phase des ersten Lockdowns im Frühjahr bereits bewährten.

Kahn soll den Klub in die Zukunft führen

Und so ist der Ausblick in die Zukunft einerseits rosig, andererseits durchaus mit einigen Fragezeichen gespickt. Kurzfristig geht es darum, dass Flick die zuletzt erschöpft wirkende Mannschaft im Jahr 2021 wieder stabilisiert. Mittelfristig wird es für Kahn, Salihamidzic und Co. darum gehen, den Umbruch weiter voranzutreiben. Einige Leistungsträger sind derzeit jenseits der 30. Top-Transfer Leroy Sané hat derweil noch nicht wirklich Tritt gefasst.

Zudem wird sich der Fußball nach dem Ende der Corona-Pandemie neu sortieren. Es spricht im Moment einiges dafür, dass der finanziell sehr solide aufgestellte FC Bayern eher gestärkt aus dieser Phase hervorgeht. Ein Dauerthema ist die Frage, wie aggressiv der Verein auf dem europäischen Transfermarkt auftreten soll.

Bisher war man hier im Vergleich zu vielen anderen europäischen Topklubs eher moderat unterwegs. Werden die Münchner in Zukunft ihre Strategie anpassen und angesichts zahlreicher stark gebeutelter Klubs im Rennen um die Top-Stars der Szene noch dominanter auftreten? Oder liegt die Zukunft wieder stärker in der eigenen Jugend? Mit Jamal Musiala ist es zuletzt immerhin zum ersten Mal seit Jahren gelungen, einen Jugendspieler in den Profikader zu integrieren.

All das sind allerdings Zukunftsfragen. Im Moment dürfen die Münchner mit großer Zufriedenheit auf ihr Jahr 2020 zurückblicken. Es ist ein Jahr, das in jeder Hinsicht nur schwer zu wiederholen ist.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.