• Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin nicht nur Deutschland, sondern auch Europa und die Welt geprägt.
  • Vier Experten aus vier Ländern werfen einen Blick auf Merkels Erbe, ihre Erfolge und Fehler.
  • Sie loben Merkels rationale Art – kritisieren aber auch eine Gefühllosigkeit, wenn es um die Beziehungen zwischen befreundeten Staaten geht.

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Seit 16 Jahren regiert Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Bald geht nicht nur für Deutschland eine Ära zu Ende – auch international hat die CDU-Politikerin Spuren hinterlassen. 14 Mal ernannte das Magazin "Forbes" sie seit 2006 zur mächtigsten Frau der Welt.

Wie blickt das Ausland auf Merkels Erbe? Vier Experten aus vier Ländern haben mit unserer Redaktion darüber gesprochen, was die Kanzlerin ihrer Meinung nach erreicht und wo sie Fehler gemacht hat.

USA: Respekt für das Krisenmanagement

"Fast eine Legende" sei Angela Merkel, findet Eric Langenbacher. Er ist Programmdirektor am Amerikanischen Institut für Zeitgenössische Deutschland-Studien der US-amerikanischen Johns Hopkins Universität.

Merkel ist für ihn vor allem eine erfolgreiche Krisenmanagerin. Finanz- und Eurokrise, Migrationskrise, Coronakrise: "Es ist eine Menge, was sie erledigen musste."

Natürlich habe Merkel häufig reagiert, nicht so sehr proaktiv Dinge vorangetrieben. "Vielleicht war es aber auch nicht die Zeit für große Projekte. Es war die Zeit für Krisenmanagement." Zudem habe Merkel großen Veränderungen nicht im Weg gestanden. Langenbacher nennt als Beispiel die gleichgeschlechtliche Ehe, die Merkel zwar nicht befürwortete, ihr aber trotzdem den Weg ebnete.

Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Amtszeit mit vier US-Präsidenten zusammengearbeitet: George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump und nun Joe Biden. Mit ihrer besonnenen und ruhigen Art sei sie für viele Amerikaner gar eine Art "Anti-Trump" geworden, sagt Langenbacher.

Er erwartet auch von Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin keine großen Veränderungen. Für einen proeuropäischen Kurs stehen nach Langenbachers Einschätzung sowohl Armin Laschet als auch Olaf Scholz und Annalena Baerbock. "Ich erwarte eher Kontinuität als Wandel."

Großbritannien: Eine Mitschuld am Brexit?

Härter geht Anthony Glees mit Merkel ins Gericht. Natürlich sei sie eine "große politische Figur", sagt der britische Historiker und Politikwissenschaftler, der an der Universität von Buckingham lehrt.

Aus seiner Sicht werden jedoch die "Abers" das politische Erbe Merkels prägen. "Sie hat in ihrem Leben immer wieder unberechenbar und emotional gehandelt", sagt Glees. "Hippiehaft", nennt er das auch. Den Ausstieg aus der Atomenergie hält er für nicht besonders klug – Deutschland sei dadurch abhängiger von französischen Atomkraftwerken geworden.

"Hippiehaft" findet Glees besonders die wohl umstrittenste Entscheidung in Merkels Amtszeit: die Grenzöffnung für Geflüchtete im Spätsommer 2015. "Sie hat sicher aus den besten, humanen Motiven gehandelt. Aber diese Entscheidung war auch eine Sammlungsfackel für die Rechtsradikalen in Europa", findet Glees.

Der Politikwissenschaftler zieht auch eine Linie zu einem einschneidenden Ereignis 2016: der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. "Die Flüchtlingspolitik von Merkel hat Brexit-Anhängern wie Nigel Farage das Argument geliefert, dass man der EU kein Vertrauen schenken darf."

Merkel sei sicher nicht schuld am Brexit, sagt Glees – aber sie trage eine gewisse Verantwortung dafür. Dem damaligen britischen Premier David Cameron sei sie unemotional und kühl gegenübergetreten, habe wenig Verständnis für die Interessen der Briten gezeigt. "Dabei war es drei Generationen lang das große Ziel der deutschen Außenpolitik, Großbritannien in der EU zu haben."

Frankreich: Enge Freunde mit gemischten Gefühlen

Hélène Miard-Delacroix hat einen differenzierten Blick auf die Bundeskanzlerin. Die Französin ist Professorin für deutsche Zeitgeschichte an der Pariser Universität Sorbonne. Wie viele ihrer Landsleute schaue sie einerseits mit Achtung und Bewunderung auf Merkel, sagt Miard-Delacroix: "Sie hat es als Frau geschafft, 16 Jahre lang potenzielle Gegner aus dem Feld zu schlagen. Sie ist nie laut. Sie ist freundlich, wissenschaftlich knapp, sucht immer den Kompromiss, ohne dass jemand das Gesicht verliert."

Andererseits kritisiere man in Frankreich häufig eine gewisse Profillosigkeit. Das gelte vor allem für die Europapolitik, wo Merkel sich kaum zu großen Reformen durchringen konnte und in der Eurokrise fast "brutal" deutsche Interessen vertreten habe. "Sie wird häufig als Bremserin wahrgenommen, die kein Projekt hatte. Sie hatte keine Vision für Europa."

Im Juli 2020 hat Merkel zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zwar ein Corona-Hilfspaket der EU von historischem Ausmaß geschnürt. Auch hier glaubt Hélène Miard-Delacroix aber, dass die Kanzlerin eher rational und nicht emotional gehandelt hat: "Es war im deutschen Interesse, dass Europa zusammenhält."

Und wie hat Angela Merkel die deutsch-französischen Beziehungen vorangebracht? "Wenn man gemein ist, könnte man sagen, dass es eher andersherum war: Die deutsch-französischen Beziehungen haben Merkel vorangebracht", sagt Miard-Delacroix. "Sie hat verstanden, dass es klug ist und nützlich sein kann, die Karte der Zusammenarbeit zu spielen."

Eine Verschlechterung dieser besonderen Beziehungen erwartet die Expertin in der Nach-Merkel-Ära nicht. Im Gegenteil: "Sie können besser werden", sagt Miard-Delacroix. "Vielleicht wird Deutschland mutiger, wenn es um Reformen der Europäischen Union geht."

Russland: Lob hinter den Kulissen

In Russland gebe es kein einheitliches Bild von Angela Merkel, betont Vladislav Belov. Der Wirtschaftswissenschaftler ist Deutschland-Experte der Denkfabrik "Russian International Affairs Council" und stellvertretender Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Die staatsnahen Medien haben ab 2014 vor dem Hintergrund des Konflikts um die Krim und die Ostukraine recht negativ über Merkel berichtet, sagt Belov. "Sie war schuld an den Sanktionen gegen Russland – und an praktisch allem anderen."

Das Bild habe sich jedoch seit 2017 gewandelt. Staatsnahe Medien berichten eher neutral über Merkel, Putin lobt die Kanzlerin immer wieder öffentlich. "Seit Mai 2017 haben viele Gespräche hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Wir wissen nicht, was genau dort besprochen wurde. Das zeigt, dass zwischen Merkel und Putin auf der Arbeitsebene ein gewisses Vertrauen besteht", glaubt Belov.

Es gebe in Russland Merkel-Versteher und Merkel-Gegner. Sich selbst zählt Belov eher zu den Verstehern. Er rechnet es der Kanzlerin hoch an, dass sie stets bereit ist, Kompromisse zu finden.

Die deutsch-russischen Beziehungen sind seit Langem von Konflikten geprägt. Zum Beispiel wegen der Cyber-Attacken auf den Bundestag 2015, hinter denen die Bundesregierung russische Hacker vermutet.

Die mutmaßliche Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny und seine Behandlung in Deutschland haben das Klima weiter verschlechtert. "Das betrifft aber vor allem die Politik", sagt Vladislav Belov. "In Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur haben sich die deutsch-russischen Beziehungen unabhängig davon positiv und konstruktiv entwickelt. Das ist auch ein Verdienst von Merkel."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Eric Langenbacher, American Institute for Contemporary German Studies, Johns Hopkins University
  • Gespräch mit Prof. Anthony Glees, The University of Buckingham
  • Gespräch mit Prof. Dr. Hélène Miard-Delacroix, Université Paris-Sorbonne
  • Gespräch mit Dr. Vladislav Belov, Russian International Affairs Council

Rente nach ihrer Kanzlerschaft: So viel Geld bekommt Angela Merkel

Im September wird Angela Merkel ihr Amt als Bundeskanzlerin endgültig niederlegen. Wie viel Geld ihr dann zusteht, geht aus einer Berechnung des Bundes der Steuerzahler hervor. (Teaserbild: picture alliance / Flashpic | Jens Krick)
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