- Freunde werden die beiden bestimmt nicht mehr: Die letzten Zusammentreffen zwischen Boris Palmer (Grüne) und Karl Lauterbach (SPD) endeten oft im Streit.
- Als eine "Schande für die Grünen" bezeichnete der SPD-Gesundheitsexperte seinen ewigen Gegenspieler sogar einst.
- Warum aber ecken die Beiden immer wieder an? Boris Palmer hat dazu eine Theorie.
Treffen sie im Fernsehen aufeinander, ist eins programmiert: Streit. Die Chemie zwischen SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und dem Grünen Tübinger Oberbürgermeister
Jüngstes Beispiel: Palmers Post bei Facebook, in dem er
Adressiert an "@Professor Pandemie" schreibt Palmer: "Ich habe Sie persönlich in unseren Begegnungen durchaus schätzen gelernt. Gerade deshalb muss ich Ihnen heute sehr deutlich widersprechen."
Kritik bei Facebook formuliert
Er wirft Lauterbach vor: Die Forderung, den Lockdown im Frühjahr zu verlängern, hätte bei Befolgung zu enormem wirtschaftlichen Schaden geführt. Seine Prognosen seien außerdem "düster, erschreckend und falsch", etwa die Rückkehr zur Normalität an Schulen auf 2022 zu datieren.
"Ich würde Sie wirklich bitten, angesichts der großen Reichweite, die Ihre Aussagen in der Pandemie erhalten haben, mehr Sorgfalt und Vorsicht walten zu lassen", forderte Palmer von seinem ewigen Gegenspieler. Lauterbach sei "eine der wenigen Personen, die Deutschlands Lockdown-Maßnahmen wesentlich bestimmen", es sei dabei "nicht verantwortlich, immer die härtesten Maßnahmen zu fordern."
Streit schwelt schon länger
Der Streit schwelt schon länger, mindestens seit Beginn der Coronakrise in Deutschland. Für eine Kontroverse sorgte Ende April zunächst Boris Palmer, als er in einem Interview mit dem "Sat.1 Frühstücksfernsehen" sagte: "Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen."
Dafür erntete Palmer Kritik aus allen Parteien, auch Lauterbach twitterte damals: "Wenn Boris Palmer mahnt, man solle nicht Menschen retten, die nur noch '6 Monate leben', ist das eines Politikers unwürdig. 1. stimmt es nicht, und 2. diese Menschen wollen leben. Mit dieser Haltung verletzt er eine ganze Generation."
Palmer selbst bezog kurz darauf Stellung zu seiner Äußerung und betonte auf Facebook, dass es niemals seine Absicht war, über die Wertigkeit von Leben zu urteilen. "Wie jeder andere erwarte auch ich, dass alle kranken Menschen die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten und dies ohne jede Einschränkung", schrieb er und ergänzte: "Allerdings stelle ich den Weg zur Diskussion, mit dem wir diesen Schutz derzeit gewährleisten."
Lauterbach wehrt sich bei Twitter
Angriffslustig gab sich Palmer kurz darauf in Maybrit Illners ZDF-Show unter dem Motto: "Pandemie und Protest – kann Corona das Land spalten?" Per Videoschalte sprach Palmer über die Demonstrationen von tausenden Gegnern der Corona-Maßnahmen. Dabei kritisierte er den dort nicht anwesenden Lauterbach und beklagte, dass die Demonstranten "von Herrn Lauterbach dafür verantwortlich gemacht werden, dass 100.000 Menschen sterben, wenn man nicht genau das macht, was er für richtig hält."
Lauterbach reagierte bei Twitter: "Bei
"Eine Schande für die Grünen"
Auch als es um das Thema Shutdown ging, nutzte Palmer die Chance, um gegen Lauterbach auszuholen. Zu einem zweiten Lockdown sagte er: "In ein oder zwei Jahren - wie Herr Lauterbach uns es empfiehlt – die Wirtschaft derart herunterzufahren, stehen wir nicht durch. Die Wirtschaft ist nun mal ein lebensunterhaltendes System."
Lauterbach wurde bei Twitter mehr als deutlich: "Jetzt wirft mir Boris Palmer schon wieder bei Illner etwas vor, was ich nie gesagt habe. Ich habe nie gesagt, dass wir die Wirtschaft für zwei Jahre herunterfahren sollen. Wie unfair er ist. Eine Schande für die Grünen. Ich sage nur, die Pandemie wird wahrscheinlich zwei Jahre dauern."
Witze auf Lauterbachs Kosten
Auch im Studio von Sandra Maischberger zankten sich die Streithähne schon. Dort sagte Lauterbach Anfang August: "Wir sind am Anfang der zweiten Welle", woraufhin Palmer witzelte, er finde das zu "apo-Karl-yptisch". Lauterbach, der in der Coronakrise immer wieder in der Rolle als Mahner aufgetreten war, dessen Befürchtungen dann nicht in Gänze eintraten, entgegnete: "Das ist ein abwertender Begriff, machen Sie einfach Ihr Argument."
Palmer aber blieb im Angriffsmodus, behauptete die "Methode Lauterbach" sei "demoralisierend". Der SPD-Politiker entgegnete genervt, es gäbe keine "Methode Lauterbach", er versuche nur nach bestem Gewissen und als Teil einer Gruppe von Wissenschaftlern, seine bisherigen Erkenntnisse zu erklären und aufgrund dessen zu warnen.
Wer hat Recht?
Ob Palmer oder Lauterbach bei den Scharmützeln im Recht ist, ist keine Grundsatzfrage, sondern bedarf einer Betrachtung der konkreten Sachangelegenheit. Mit der Kritik an Lauterbachs pessimistischen Prognosen ist Palmer zumindest nicht alleine: Als Lauterbach auch in der ARD-Talkshow "Hart, aber fair" Ende September vor der zweiten Welle warnte, entgegnete Schauspieler Dieter Hallervorden "Das ist keine Warnung. Das ist Panikmache!" Die Leute bräuchten Hoffnung.
Tatsächlich muss Lauterbach einige Fehleinschätzungen zugeben. Als über die Wiedereröffnung von Schulen debattiert wurde, twitterte Lauterbach: "Regulärer Unterricht fällt für mindestens ein Jahr aus."
Wesentlich schneller als von dem SPD-Politiker prognostiziert, sind die meisten Schulen aber bereits nach den Sommerferien zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. Auch Lauterbachs Annahme, große Demonstration würden zu Superspreader-Events auswachsen, erwies sich als falsch.
Auch Palmer bekommt Gegenwind
Reinen Alarmismus kann man dem studierten Mediziner und Gesundheitsökonom aber sicherlich nicht zum Vorwurf machen. Beispielsweise lag Lauterbach richtig, als er behauptete, großflächige Tests seien nötig, um die Pandemie in den Griff zu bekommen und es brauche rigorose Maßnahmen, um die Infektionszahlen nach unten zu treiben.
Dass Palmer zudem nicht immer nur derjenige ist, der austeilt, sondern auch selbst Gegenwind bekommt, zeigte sich in Illners Sendung im Mai 2020. Dort widersprach Helmholtz-Forscher Michael Meyer-Hermann der These des Tübingers, man rette Menschen, die ohnehin bald tot seien. Meyer-Hermann betonte, Berechnungen zeigten, dass "die Mehrheit der Leute, die an Corona gestorben sind, im Durchschnitt noch neun Jahre zu leben gehabt hätten." Palmer entgegnete dem Argument nur "Ich halte das für falsch".
Palmer zitierte falsch
Gefallen lassen muss sich der Grüne indes, dass er den Geschäftsführer von Unicef, Christian Schneider, nicht richtig zitiert hatte. Palmer hatte seine umstrittene Aussage im "Sat.1 Frühstücksfernsehen" nämlich mit seiner Sorge um armutsbedrohte Kinder – vor allem in Entwicklungsländern - erklärt. "Die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der Uno dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kostet", hatte Palmer gesagt.
Fakt ist aber: Zwar hatte Schneider tatsächlich auf die wachsende Gefahr hingewiesen, allerdings hatte er lediglich gesagt, dass die Pandemie "für Millionen Kinder und ihre Familien in fragilen Staaten, armen Gemeinden und Krisenregionen eine existenzielle Gefahr" sei.
Konflikt hat zentralen Punkt
Wieso aber Ecken Palmer und Lauterbach immer wieder an? Abseits der Tatsache, dass die beiden politische Konkurrenten sind, handelt es sich generell um eigenwillige Persönlichkeiten. Debattieren die beiden, trifft Profi-Provokateur Palmer mit Lauterbach auf jemanden, der sich betont nüchtern gibt.
Auf Anfrage unserer Redaktion erklärt Palmer: "Unser Konflikt hat einen zentralen Punkt: Sind strenge und lang anhaltende Kontaktverbote das beste Rezept gegen Corona oder sollten wir Kontaktverfolgung und Schutz der Risikogruppen den Vorrang einräumen?" Lauterbach halte effiziente Kontaktverfolgung wie in Asien zwar wie er für richtig, im Gegensatz zu ihm aber wegen des Datenschutzes in Deutschland für nicht durchsetzbar.
Kritik an zitierten Studien
"Schutz der Risikogruppen hält er nicht für machbar, Tübingen praktiziert ihn", betont Palmer. Er trete dafür ein, zuerst alle Energie in Kontaktverfolgung und Schutz der Risikogruppen zu stecken, weil damit die Kontaktbeschränkungen und Grundrechtseingriffe sehr viel milder ausfallen könnten. "Herr Lauterbach hält das für unmöglich und tritt stets für maximal wirksame Kontaktverbote ein", meint Palmer. Dabei ignoriere er die schweren Schäden, die das verursache oder rede sie klein.
Neben diesem Kernstreitpunkt sieht Palmer einen Dissens in Nebensachen: "Ich habe festgestellt, dass Herr Lauterbach über Corona viele Aussagen auf Studien gestützt hat, die einer Überprüfung nicht standhalten", sagt er. Das merkwürdigste Beispiel sei die Aussage, Corona verringere den IQ. Lauterbach hatte sich dabei Ende Oktober bei "Markus Lanz" geäußert und sich auf eine Studie des Imperial College London gestützt.
Uneinigkeit in Bevölkerungsansprache
"Die Studie bestand aus gerade mal neun Fragen, die Online beantwortet werden sollten. Das macht die Messung des IQ recht ungenau. Die Studie bietet keinen Vergleich der Werte der Personen vor und nach der Infektion, sondern nur Daten nach der Infektion", kommentiert Palmer in seinem Post auf Facebook. Das Sample sei nicht repräsentativ genug, der 8-Punkte-Verlust beziehe sich zudem auf Patienten, die beatmet wurden.
Uneinigkeit auch in der Ansprache der Bevölkerung: "Herr Lauterbach wählt stets dunkle Farben und versucht den Menschen mit der Angst vor schlimmen Entwicklungen abzuverlangen, seinen Vorschlägen zu folgen. Ich halte das für hoch problematisch, weil es auf die Dauer demoralisierend wirkt", so Palmer. Lauterbach lehnt eine Beantwortung der Anfrage derweil ab. Das mag Taktik sein, lautet doch ein bekanntes Zitat von Gilbert Keith Chesterton über Streithähne: "Schweigen ist die unerträglichste Erwiderung".
Verwendete Quellen:
- Anfrage an Boris Palmer, Oberbürgermeister der Stadt Tübingen
- Facebook-Profil von Boris Palmer
- Twitter-Profil von Karl Lauterbach
- Sendung vom Sat.1 Frühstücksfernsehen vom 28.04.2020
- Sendung von Markus Lanz vom 28.10.2020
Corona-Video der Bundesregierung
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.