• Die Ampel-Koalition hat einen Vorschlag für eine Wahlrechtsreform vorgelegt. Damit soll der Bundestag in Zukunft keine Übergröße mehr haben.
  • CDU und CSU sind gegen das Modell und haben einen eigenen Vorschlag gemacht.
  • Welcher Weg ist der bessere? Die Abgeordneten Sebastian Hartmann (SPD) und Alexander Hoffmann (CSU) diskutieren.
Ein Interview

Der Bundestag ist zu groß – darüber sind sich praktisch alle einig. Ein Zusammenspiel aus Wahlsystem und Wahlergebnissen hat zur Folge, dass Deutschland gerade das größte Parlament eines demokratischen Staates weltweit hat: 736 Abgeordnete gehören dem Bundestag an. Die Normalgröße liegt eigentlich bei 598.

Mehr aktuelle News

Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP wollen deshalb eine Wahlrechtsreform umsetzen, mit der der Bundestag wieder schrumpfen soll. CDU und CSU lehnen das Modell jedoch ab und haben einen Gegenvorschlag gemacht.

Die Bundestagsabgeordneten Sebastian Hartmann (SPD) und Alexander Hoffmann (CSU) sind Mitglieder der Kommission zur Reform des Wahlrechts. Im Doppel-Interview mit unserer Redaktion diskutieren sie: Welcher Weg zum kleineren Bundestag ist der bessere?

Herr Hartmann, wie wollen SPD, Grüne und FDP erreichen, dass der Bundestag wieder kleiner wird?

Sebastian Hartmann: Wir wollen den Bundestag sicher auf die gesetzliche Regelgröße von 598 Mandaten beschränken. Mit unserer Reform wird es keine Überhang- und keine Ausgleichsmandate mehr geben, die zur Übergröße geführt haben. Weiterhin werden die Kandidatinnen und Kandidaten in den Bundestag einziehen, die in den 299 Wahlkreisen die meisten Wahlkreisstimmen bekommen – allerdings nur, wenn ihre Partei auch einen entsprechenden Sitzanspruch durch die entsprechende Zahl von Hauptstimmen – früher: Zweitstimmen – erreicht hat.

Das wäre neu.

Sebastian Hartmann: Ja. Wenn eine Partei in einem Land in mehr Wahlkreisen die relativ meisten Stimmen erreicht hat und damit mehr Abgeordnete über die Wahlkreisstimmen ein Mandat erreichen könnten, als ihr aufgrund des Verhältnisses der Zweitstimmen zustehen würden, haben Wahlkreiserste mit den niedrigsten Stimmenanteilen keinen Anspruch auf ein Mandat.

Im Klartext heißt das: Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin einen Wahlkreis direkt gewinnt, ist das keine 100-prozentige Garantie mehr, in den Bundestag einzuziehen.

Sebastian Hartmann: Unter welchen Bedingungen eine Wahl als gewonnen gilt, bestimmt in Deutschland das Wahlrecht. Wir sagen: Die Stimmen im Wahlkreis führen erst dann zu einem Sitz im Bundestag, wenn die Partei darauf auch nach dem Zweitstimmenverhältnis einen Anspruch hat.

Alexander Hoffmann: "Ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip"

Herr Hoffmann, CDU und CSU sind strikt gegen dieses Modell. Warum?

Alexander Hoffmann: Der Vorschlag der Ampel-Parteien wäre aus unserer Sicht ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Auch der Wähler geht davon aus, dass der Gewinner in seinem Wahlkreis in den Bundestag einzieht. Er informiert sich, geht zu Veranstaltungen, macht vielleicht Wahlkampf, gibt seine Stimme ab – und dann gewinnt jemand einen Wahlkreis, zieht aber nicht in den Bundestag ein? Das frustriert – und wir haben die Sorge, dass diese Frustration auf Dauer demokratiezersetzend wirkt.

Inwiefern?

Alexander Hoffmann: Nach diesem Modell wären bei der vergangenen Bundestagswahl in Bayern ungefähr 25 Prozent der Erststimmen irrelevant gewesen – weil in 25 Prozent der Wahlkreise der Gewinner nicht sein Direktmandat bekommen hätte. Besonders groß ist diese Gefahr in hart umkämpften Wahlkreisen. Die Parteien werden dann Probleme bekommen, Kandidaten für diese Wahlkreise zu finden und die eigenen Leute an die Wahlurne zu bringen. Profitieren würde davon ausschließlich die AfD. Die AfD hat ja genau dieses Modell in der vergangenen Legislaturperiode vorgeschlagen.

Sebastian Hartmann: Diese Sichtweise blendet einen Teil des Wahlergebnisses aus. Die Wählerinnen und Wähler geben ja zwei Stimmen ab: die Erststimme und die Zweitstimme. In Bayern hat die CSU bei der vergangenen Bundestagswahl über die Erststimmen 45 von 46 Direktmandaten in den Wahlkreisen gewonnen. Allerdings hat die CSU in Bayern nur 31,7 Prozent der Zweitstimmen bekommen – und mehr Sitze stehen der CSU proportional im Vergleich zu allen anderen Parteien nicht zu.

Denn bisher muss der Bundestag so groß werden, damit das Zweitstimmenergebnis durch die knapp gewonnen Überhangmandate nicht verzerrt wird. Wir stärken mit unserem Modell die Wahlkreise, aber auch das Prinzip der Verhältniswahl. Es besagt: Die Sitzverteilung im Bundestag richtet sich nach dem Kräfteverhältnis der Zweitstimmen. Die Zweitstimme ist und bleibt die entscheidende Stimme. Darum soll sie künftig Hauptstimme heißen.

Alexander Hoffmann: Ich muss aber als Wähler die Möglichkeit haben, einen Kandidaten unmittelbar zu wählen. Wir müssen uns das Wahlrecht aus der Perspektive des Wählers anschauen – und für den Wähler ist die Erststimme wichtig. Er will einen unabhängigen Abgeordneten, der vor Ort legitimiert ist, von dem man weiß: Der kümmert sich vier Jahre um die Belange der Region. Die Erststimme gewährleistet heute, dass jede Region im Bundestag vertreten ist. Beim Vorschlag der Ampel wäre das nicht mehr garantiert.

Sebastian Hartmann: Alle Abgeordneten sind dem gesamten Volk verpflichtet. Auch ich als Nordrhein-Westfale handle für die Menschen im Freistaat Bayern. Auch Alexander Hoffmann handelt als CSU-Politiker für die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger außerhalb von Bayern. Außerdem wären diese Fälle die Ausnahme: Nach unseren Regeln wären beim Wahlergebnis von 2021 nur drei bis fünf der 299 Wahlkreise ohne Direktkandidat oder Listenkandidat geblieben. Wenn das Direktmandat so entscheidend wäre, dann bräuchte es im jetzigen Wahlrecht auch eine Nachwahl, wenn ein direktgewählter Abgeordneter während der Legislaturperiode ausscheidet. Das ist aber nicht vorgesehen.

Herr Hoffmann, wie sieht das Gegenmodell von CDU und CSU aus?

Alexander Hoffmann: Wir haben schweren Herzens vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 270 zu reduzieren. Wir bleiben aber im bestehenden System. Alle Wahlkreisgewinner ziehen in den Bundestag ein. Außerdem werden 320 Mandate an die Listenkandidaten verteilt, um Nachteile kleiner Parteien auszugleichen. Wenn es zu Überhangmandaten kommt, gibt es für die ersten 15 davon keine Ausgleichsmandate für die anderen Parteien. Wir orientieren uns an Lösungen, die das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt hat. Wir machen also keine Experimente, sondern bieten eine sichere Lösung an.

Allerdings mit dem Nachteil, dass die Zahl von 598 Abgeordneten nicht garantiert ist. Der Bundestag könnte dann – je nach Wahlergebnis – weiterhin größer werden als gesetzlich vorgesehen.

Alexander Hoffmann: Unser Modell würde wahrscheinlich dazu führen, dass sich der Bundestag zwischen 590 und 620 Abgeordneten bewegt. Das ist eine Größe, mit der das Parlament sehr gut arbeiten kann. Und noch einmal: Wir hätten dann nicht den frustrierenden Fall, dass bestimmte Regionen im Bundestag nicht vertreten sind.

Sebastian Hartmann: Eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise würde die Repräsentation der Regionen im Bundestag aber auch schwächen. Außerdem hätte der Bundestag dann weiterhin eine schwankende Größe.

Sebastian Hartmann: "Es gibt eine Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger"

Herr Hartmann, bisher wurde meistens versucht, das Wahlrecht mit breiten Mehrheiten zu ändern. Die Ampel-Koalition könnte ihren Vorschlag aber auch mit der eigenen Mehrheit ohne CDU und CSU durchsetzen. Werden Sie das machen, wenn Sie sich nicht mit der Union einigen?

Sebastian Hartmann: Wir sind an Gesprächen interessiert. Man merkt, dass Alexander Hoffmann und ich mehr als einmal miteinander über das Wahlrecht geredet haben. Wir wollen eine breite Mehrheit. Im Zweifel gibt es aber eine Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger. Die wollen eine Verkleinerung des Bundestags – notfalls auch mit einfacher Mehrheit.

Alexander Hoffmann: Ich bin zuversichtlich, dass wir zusammenkommen. Wir hatten in der vergangenen Woche ein klimatisch gutes Gespräch. Der Kollege Hartmann und ich – wir verstehen uns auch jenseits der Tischkante gut. Wir ringen um eine gemeinsame Lösung.

Falls die aber nicht zustande kommt – werden CDU und CSU dann gegen die Reform der Ampel vor dem Bundesverfassungsgericht klagen? Dann stünden Sie möglicherweise als diejenigen dar, die eine Schrumpfung des Bundestags verhindern.

Alexander Hoffmann: Wer klagt, ist gegen die Verkleinerung des Bundestages? Nein, das stimmt nicht. Wir haben veritable Argumente gegen diese Reform und wir haben eigene Vorschläge für die Verkleinerung gemacht. Auch in der vergangenen Legislaturperiode hat die Große Koalition eine Wahlrechtsreform beschlossen, dagegen haben die damaligen Oppositionsparteien Grüne, Linke und FDP auch geklagt. Da gab keinen öffentlichen Aufschrei.

Wenn es keine Einigung gibt und wir eine Wahlrechtsreform einfach übergestülpt bekommen, werden wir sie vom Bundesverfassungsgericht überprüfen lassen müssen – auch im Interesse unserer Wählerinnen und Wähler. Das ist das Recht jeder Partei.

Sebastian Hartmann: Da gebe ich meinem Kollegen ausdrücklich recht. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Dazu gehört eine unabhängige Überprüfung von Gesetzen, dafür haben wir aus gutem Grund ein Bundesverfassungsgericht. Deswegen wollen wir das Wahlrecht auch möglichst früh reformieren: damit vor der nächsten Bundestagswahl noch genügend Zeit für eine unabhängige Überprüfung der Reform bleibt, falls geklagt wird.

Zu den Personen:
Sebastian Hartmann wurde 1977 in Oberhausen geboren und wuchs im Rhein-Sieg-Kreis auf, in dem er heute noch lebt. Von 2018 bis 2021 war der Jurist Landesvorsitzender der SPD in Nordrhein-Westfalen, seit 2013 ist er Mitglied des Bundestages. Dort ist er innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

Alexander Hoffmann,1975 in Würzburg geboren, wuchs im Main-Spessart-Kreis auf. Auch er ist Jurist und zog 2013 erstmals in den Bundestag ein – allerdings mit einem Direktmandat für die CSU. Hoffmann ist Mitglied im Innenausschuss und in der CSU-Landesgruppe für Innenpolitik zuständig.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.