Gemeinsamkeiten mit der CSU? Ja, die gebe es, sagt Linken-Chefin Katja Kipping – aber nicht in inhaltlicher Hinsicht. Im Interview spricht sie über semantische Feinheiten im Leitantrag, Europa als Friedensmacht und Kaffeetrinken mit Sahra Wagenknecht.

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Ihr Ergebnis von 64,5 Prozent auf dem vergangenen Parteitag in Leipzig wurde vielfach als herber Rückschlag gewertet. Wofür wurden Sie abgestraft?

Katja Kipping: Ich habe schon im Vorfeld angesichts all der Angriffe gesagt: Hauptsache gewählt. Damit wir den Kurs der verbinden Politik fortsetzen und damit die Linke noch größer machen können.

Übrigens sind in unserer Partei 90 Prozent-Ergebnisse eher die Ausnahme. Um das mal zu verdeutlichen: Auf dem Parteitag haben nur drei Personen bei Wahlen mehr Ja-Stimmen als ich bekommen: Janine Wissler, Bernd Riexinger und Axel Troost.

Es gab im Vorfeld jede Menge Angriffe auf uns, sodass wir nicht wussten, ob wir am Ende als Vorsitzende wiedergewählt werden.

Ich wollte kein Wohlfühlergebnis, sondern bin als Vorsitzende angetreten, die Probleme in der Partei auch anspricht. Denn Probleme anzusprechen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Partei nach Klärung einer inhaltlichen Frage auch wieder zur Ruhe kommen kann.

Wie sehr lastet der Streit mit Sahra Wagenknecht Ihrer Meinung nach auf der Partei und spaltet die Linke?

Das ist für mich kein persönlicher Streit, ich habe Sahra auch vor dem Parteitag zum gemeinsamen Kaffeetrinken eingeladen. Wir haben vielmehr eine strategische Kontroverse, wie wir auf den Rechtsruck reagieren.

Der Parteitag hat drei starke Signale gesendet: Erstens: Es gibt den klaren inhaltlichen Wunsch, die Linke als eine Kraft des Internationalismus aufzustellen, die gesellschaftliche Gruppen nicht gegeneinander ausspielt. Zweitens gab es ein starkes Bedürfnis bei Teilen der Delegierten nach Harmonie. Und drittens gab es ein starkes demokratisches Bedürfnis.

Die Delegierten haben sich die Debatte angeeignet und ihre Rechte eingefordert. Das wirft schon mal Zeitpläne über den Haufen, aber dahinter steckt ein ermutigender emanzipatorischer Impuls.

Die Linken wollen der Gegenpol zu Konservativen wie Jens Spahn und Alexander Dobrindt sein. Aktuell springen aber zuerst die Gemeinsamkeiten ins Auge: Streit innerhalb der Partei und keine gemeinsame Position zur Migration. Was macht die Linkspartei besser?

Wir sind das Kontrastprogramm zur autoritären Rechten, zu Typen wie Dobrindt und Spahn und zur AfD. Wir haben eine klare Position zur Flüchtlingspolitik, sie ist auf dem Parteitag im Leitantrag mit fast 100 Prozent bestätigt worden.

Sie besteht aus folgendem Dreiklang: Fluchtursachenbekämpfung, wozu auch Klimagerechtigkeit zählt, eine soziale Offensive für alle und Flüchtlingssolidarität samt dem Einsatz für offene Grenzen und legale Fluchtwege. Das ist ein sehr stimmiges Herangehen.

... also keine Gemeinsamkeiten?

Nein, in inhaltlicher Hinsicht auf keinen Fall. Aber in einem anderen Punkt: Es gibt in unserer Gesellschaft zwei unterschiedliche Zugänge zur Welt: Modernisierungsoptimisten und -skeptiker.

Während die einen sich überall zu Hause fühlen, tun es die anderen mittlerweile nirgendwo mehr. Die Skeptiker sehen es als Ausdruck ihres eigenen Abstieges, wenn nebenan ein Geflüchteter einzieht, die Optimisten deuten das als kulturelle Bereicherung.

In beiden Gruppen gibt es Arme und Beschäftigte. Es gibt Parteien, deren Klientel setzt sich ausschließlich aus Modernisierungsoptimisten zusammen – etwa Grüne und FDP. Bei der AfD sind es hingegen zu 100 Prozent Modernisierungsskeptiker.

Bei der Linkspartei und der Union sind beide Lager gleichermaßen vertreten. Ich sehe unsere Aufgabe darin, beide Zugänge zur Welt zu versöhnen. Das betrifft bezahlbares Wohnen ebenso wie den Pflegenotstand.

Sie gelten neben Sahra Wagenknecht als zentrale Figur in der Auseinandersetzung um Macht und Deutungshoheiten in der Linkspartei. Im Leitantrag ist die Forderung "offene Grenzen für alle" auf "offene Grenzen" geschrumpft. Ein Klauselkompromiss, in dem sich jeder wieder finden kann?

Nein. Das ist der Versuch, die klare Aussage des Leitantrages umzuinterpretieren.

Der Leitantrag hat noch mal bestärkt, dass das Wahlprogramm verbindlich für die Fraktion gilt. Offene Grenzen sind offene Grenzen - ohne Einschränkung.

Ist es in Ihren Augen ein Tabubruch Flucht und Arbeitsmigration zu unterscheiden?

Ach, Tabubruch, das ist so ein aufgeladenes Wort. Ich frage viel mehr in der Sache: Wer definiert denn, was "legitime" Gründe sind, das eigene Land zu verlassen?

Wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Pässen gegeneinander ausgespielt werden, ist es die Aufgabe der Linken, sie zusammenzubringen, anstatt sie in dem Gegeneinander zu bestärken.

Warum widersprechen Sie Parteikollegin Wagenknecht, wenn sie sagt, es sei weltfremd, dass jeder nach Deutschland kommen kann und Anspruch auf Sozialleistungen hat?

Daran will ich mich nicht abarbeiten. Die Parteiposition ist der eben erwähnte Dreiklang.

Wir wollen nicht die Debatten führen, die die Union umtreiben. Wir setzen uns dafür ein, dass die Menschen nicht wegen Umweltzerstörung, Hunger oder Armut gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen und wollen gleichzeitig hier vor Ort eine soziale Offensive mit mehr bezahlbarem Wohnraum, mehr Lehrkräften und aktiverer Arbeitsmarktpolitik umsetzen.

Wir machen nicht mit, wenn über Geflüchtete als Gefahr gesprochen wird, wir stehen für Solidarität mit Geflüchteten.

Entwertet diese Linie nicht den besonderen Wert des Asylrechts in der deutschen Verfassung? Wächst dadurch nicht die Gefahr, dass wirklich politisch Verfolgte abgewiesen werden müssen?

In der juristischen Behandlung werden Unterschiede vorgenommen. Die Frage, die mich umtreibt, ist aber: Wie rede ich über Arbeitsmigration? Nehme ich zur Kenntnis, dass wir ein Einwanderungsland sind und es sogar wirtschaftliche Bereiche wie in der Landwirtschaft oder Pflege gibt, die aktuell auf Arbeitsmigration angewiesen sind?

Wenn Menschen zu uns kommen und in Konkurrenz mit bereits hier Lebenden gebracht werden, ist das Schuld einer Politik, die Menschen gegeneinander ausspielt. Hier ist es unsere Aufgabe klarzumachen: Lasst uns gemeinsam für bessere Löhne, gute Arbeitsstandards und kürzere Arbeitszeiten streiten.

Lügt sich die Linke selbst in die Tasche – in Anbetracht der Tatsache, dass in allen drei Landesregierungen, in denen die Linke vertreten ist oder sie sogar führt, Abschiebungen vorgenommen werden?

Nein, denn im Föderalismus kann man auf Landesebene die Bundesgesetzgebung nicht aushebeln. Ich weiß, dass die Berliner, Thüringer und Brandenburger gerne die Hartz-IV-Sanktionen abschaffen würden - das ist ebenfalls Bundesgesetzgebung.

Man muss aber den Einfluss, den man hat, nutzen - so wie die Berliner Senatorin Elke Breitenbach es getan hat. Durch ihre energische Politik wurden die Geflüchteten, die lange in Turnhallen zusammengepfercht waren, in dezentralen Unterkünften untergebracht – eine wichtige Voraussetzung für Integration.

Die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung hat auch Grenzen. Wie tragen Sie dem Rechnung?

Es stimmt, es muss einiges für den gesellschaftlichen Zusammenhalt getan werden. Ich stehe regelmäßig morgens vor dem Jobcenter und gehe in die Plattenbaugebiete – dorthin, wo die Wut groß ist und der Ton rauer.

Dort höre ich auch, wie Geflüchtete für Probleme verantwortlich gemacht werden. Die Probleme haben aber andere Ursachen.

Ich will deshalb nicht in den Chor der Vielen einstimmen, die den Leuten sagen, an all ihren Problemen wären die Geflüchteten Schuld. Das ist eine pure Ablenkungsstrategie der Rechten. Als Linke schaue ich vielmehr auf die Superreichen und kritisiere, dass Wohnungen zum Spekulationsobjekt Nummer eins geworden sind.

Wenn der Streit schon auf nationaler Ebene so schwer zu schlichten scheint, wie blicken Sie auf den EU-Gipfel Ende Juni in Bezug auf eine gemeinsame EU-Asylpolitik?

Die Situation mit Blick auf Europa ist verheerend. Ich schlage eine EU-weite Fluchtumlage vor. Das bedeutet: Ein Verteilungsschlüssel gemessen an der Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl eines Landes bestimmt, wie viel Prozent der jährlich ankommenden Geflüchteten ein Land aufnehmen muss.

Länder oder Regionen, die deutlich mehr aufnehmen müssten, bekämen deutlich höhere Förderungen aus Fonds. Damit würde man eine positive Anreizstruktur schaffen.

Leider ist es in der EU gegenwärtig so, dass diejenigen sich finanziell einen schlanken Fuß machen, die sich unmenschlich gegenüber Flüchtlingen verhalten.

Angesichts der USA mit Trump an der Spitze ist es umso wichtiger, dass die EU sich als Gegenkraft aufstellt. Sie darf den Weg der USA nicht noch einmal kopieren und als Weltpolizist und Militärmacht agieren, sondern muss Friedensmacht sein.

Wie weit darf die Linke auf Wähler zugehen, die zur AfD gewandert sind?

Wir kämpfen um alle, die früher mal die Linke gewählt haben oder sich vorstellen können uns zu wählen – aber ohne Opportunismus.

Meine Herangehensweise ist immer das direkte Gespräch. Dabei geht es darum mit den Menschen zu sprechen, ihnen aber nicht nach dem Mund zu reden. Wir müssen deutlich machen, dass die eigentlichen Konflikte nicht zwischen deutsch und nicht-deutsch bestehen, sondern zwischen oben und unten.

Konkret: Beim Mangel an bezahlbarem Wohnraum hilft nicht das Hetzen gegen Geflüchtete, sondern der Blick auf Hedgefonds wie Vonovia.

Wie groß schätzen Sie das Risiko durch die AfD explizit für die Linkspartei ein?

Das Risiko möchte ich nicht für die Linkspartei beschreiben, sondern für die Gesamtgesellschaft – und das ist groß. Die Entschiedenheit der ganz Rechten treibt gerade die gesellschaftliche Mitte nach rechts. Das führt zu einer Politik der Verrohung und Spaltung, und man weiß nicht, wo diese haltmacht.

Zu Beginn hat sich zum Beispiel Pegida vor allem gegen Wirtschaftsflüchtlinge positioniert, aber als Brandsätze auf Flüchtlingsheime geworfen wurden, hat niemand mehr gefragt, ob das jetzt Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge sind.

Wenn Empathie und Menschlichkeit unter die Räder kommen, kann sich keine Gruppe mehr sicher schätzen. Das sollten wir aus der Geschichte gelernt haben.

Warum hat die AfD gerade in strukturschwachen Regionen besonders bei Arbeitern, Arbeitslosen und auch Gewerkschaftsmitgliedern deutlich mehr Anhänger als die Linke?

Das ist nicht der Fall. Die Behauptung, die Linke sei schuld am Aufstieg der AfD, weise ich zurück.

Die Hauptquellen der AfD-Wählerschaft sind vorherige Nichtwähler und ehemalige Wähler von Union und SPD. Dann erst kommen die, die wir verloren haben.

Entscheidend: Der Kulturkampf von rechts wird nicht von Arbeitern und Armen angeführt. Es sind Personen wie die Unternehmensberaterin Weidel, der ehemalige Senator Sarrazin und die Professoren Meuthen und Lucke, die den Rechtsruck eingeleitet haben. Das sind nicht die Menschen, die ich morgens vor dem Jobcenter treffe.

Wenn ich dort unterwegs bin, höre ich aber leider auch: "Frau Kipping, Sie kämpfen engagiert gegen Hartz IV, deshalb habe ich Sie immer gewählt. Aber nie hat die Regierung etwas geändert. Jetzt habe ich es mal mit den anderen probiert."

Wenn etwas die Rechten stark gemacht hat, dann war das die Politik der vorangegangen Bundesregierungen, die nicht engagiert genug gegen Armut und Spaltung vorgegangen sind. Armut ist keine Entschuldigung zum Rassisten zu werden, aber Abstiegsängste sind leider ein guter Nährboden für Menschenhass.

Sehen Sie den freien Fall der SPD eher mit Sorge oder steht die Chance im Vordergrund, als linkssozialdemokratische Kraft deren Erbe anzutreten?

Natürlich lässt es mich als Linke nicht kalt, dass die SPD sich ins Abseits katapultiert hat. Es tritt jedoch genau das ein, was wir in der Vergangenheit bereits mit Sorge formuliert haben: Wenn die SPD sich wieder in eine Koalition mit der CDU begibt, wird sie ihr Ziel, die Partei zu erneuern, kaum umsetzen können.

Ich kann nur sagen: Wir wollen denjenigen, die sich bei der SPD nicht mehr zu Hause fühlen, ein Angebot machen und eine Andockstelle bieten.

Man muss auch nicht sofort Mitglied werden: Nach dem SPD-Mitgliederentscheid zur GroKo haben wir angeregt, vor Ort gemeinsame Aktionskomitees – etwa zum Pflegenotstand – zu bilden, um Begegnungsräume zu schaffen und um gemeinsam in Aktion zu kommen.

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