111 Mandate über der Sollgröße zählt der Bundestag seit der letzten Wahl im Jahr 2017. Bei der nächsten Bundestagswahl könnten es noch mehr werden und die Kosten damit weiter steigen. Schon jetzt ist die 1-Milliarde-Marke fast geknackt. Drücken SPD und Opposition eine Reform gegen den Willen der Union durch?
Deutschland kann mit einigen Größen-Rekorden aufwarten: Mit Volkswagen und Daimler kommen zwei der größten Konzerne der Welt aus Deutschland, das weltweit größte Hopfenanbaugebiet liegt in der Hallertau und selbst die größte lieferbare Pizza der Welt wird hierzulande gebacken.
Dass der 19. Deutsche Bundestag mit 709 Abgeordneten aber nach dem chinesischen Volkskongress das zweitgrößte Parlament der Welt ist, ist kein Grund zur Freude. Vielmehr ist das für den Steuerzahler teuer, für die Gesellschaft ineffizient und für den Wähler unverständlich.
Woher kommt der Größenzuwachs von 20 Prozent?
"Die Sollgröße des Bundestages beträgt eigentlich 598 Abgeordnete", sagt Politikwissenschaftler Prof. Frank Decker von der Universität Bonn. Davon gehen 299 Plätze an Direktkandidaten aus den Wahlkreisen, jeder umfasst im Durchschnitt 250.000 Bürger. Mit den Zweitstimmen werden die Landeslisten der Parteien gewählt und so über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag entschieden.
"Wenn eine Partei mehr Direktstimmen erhält, als ihr nach den Zweitstimmen-Anteilen zustehen, kommt es zu Überhangmandaten", erklärt Decker. Dadurch entspricht die Sitzverteilung im Bundestag nicht unbedingt der prozentualen Zweitstimmenverteilung.
"Zur Korrektur wurden 2013 Ausgleichsmandate eingeführt", so Decker. Dabei wird die Gesamtzahl der Sitze so lange vergrößert, bis alle Überhangmandate ausgeglichen sind und die Überhangmandate für keine Partei einen relativen Vorteil darstellen.
Kosten von fast einer Milliarde Euro für den Steuerzahler
2019 wuchs der Bundestag deshalb auf 709 Abgeordnete an. Das führt zu Mehrkosten für zusätzliche Räume und Mitarbeiter.
Kein Wunder, dass die Ausgaben beinahe explodieren: Für 2019 veranschlagte der Bundesrechnungshof in einem Bericht, aus dem die "Bild" zitiert, die Kosten des Parlaments auf 973,7 Millionen Euro. 137 Millionen für Miete und Unterhalt der Gebäude, 112 Millionen für die Fraktionen, 460 Millionen für die Diäten der Abgeordneten.
"Demokratie darf Geld kosten, aber diese Aufwendungen sind vermeidbar", meint Decker. Auch FDP-Geschäftsführer
Wahlrechtsreform ist überfällig
Die Größe des Bundestages dürfe in unserer Demokratie keine Variable sein, die vom Zufall des Wahlergebnisses abhängt, mahnt Decker und urteilt: "Eine Wahlrechtsreform ist lange überfällig!"
Es gebe keine vernünftigen Gründe für eine derartige Überschreitung - weder zusätzliche Aufgaben des Parlaments noch ein massiver Anstieg der Bevölkerung.
Wie aber den Bundestag in seiner Größen-Explosion stoppen? "Die Vorschläge dafür liegen seit langem auf dem Tisch, aber die Union blockiert", so Decker. Im Grunde gehe es um eine Neujustierung des Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten, damit keine Überhangmandate mehr entstehen.
"Am einfachsten wäre eine Reduktion der Wahlkreise auf 240, wodurch es also weniger Direktmandate gäbe und entsprechend mehr Listenplätze", erklärt der Politikwissenschaftler.
Diesen Vorschlag haben auch jüngst SPD und Opposition wieder eingebracht und angedroht, die Reform im Zweifel gegen die Unions-Blockade durchzusetzen.
"Bürgernähe" ist vorgeschobener Grund
Die offizielle Erklärung der Union, die Bürgernähe würde leiden, wenn Wahlkreise größer geschnitten wären, hält Decker für vorgeschoben. "Die Union holt die meisten Direktmandate, in Bayern hat die CSU alle Wahlkreise gewonnen. Die Union würde durch eine solche Reform die meisten direkt gewählten Abgeordneten verlieren und will sich nicht selbst beschneiden."
Wenn im aktuellen Wahlsystem Überhangmandate anfallen, profitiert vor allem die Union. Von den 46 Überhangmandaten, die bei der Bundestagswahl 2017 entstanden, entfielen 43 auf die Union, 3 auf die SPD. Die 65 Ausgleichssitze gingen an SPD (19), FDP (15), AfD (11), Linke (10) und Grüne (10).
Gegenvorschlag: Deckelung der Ausgleichsmandate
Der Gegenvorschlag der Union lautet: Deckelung der Ausgleichsmandate. Das schlug beispielsweise Norbert Lammert (CDU) 2016 vor.
Das Bundesverfassungsgericht urteilte bereits, dass eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten, nämlich 15, nicht ausgleichspflichtig sind. Hätte die Union diese Überhangmandate, wäre sie klar im Vorteil.
"Sie könnte mit demselben Wahlergebnis 15 Abgeordnete mehr haben, das kann für die Mehrheitsbildung durchaus eine wichtige Rolle spielen", so Decker.
Weitere Wünsche angemeldet
"Da machen die SPD und die Oppositionsparteien nicht mit, denn bei dieser Lösung wären sie die Leidtragenden", so Decker. "Sie werden hinter den Kompromiss des vollständigen Ausgleichs von Überhangsmandaten, wie er seit 2013 gilt, nicht mehr zurückgehen", so Decker.
Gleichzeitig wird die Wahlrechtsreform mit anderen Wunschvorstellungen kombiniert: Beispielsweise brachte der Vizepräsident des Bundestags, Thomas Oppermann (SPD), kürzlich in der "Welt" eine paritätische Verteilung zwischen Männern und Frauen ins Spiel. "Wir sollten die Reform nicht mit anderen Zielen überfrachten, sondern uns allein auf die Rückkehr zur Sollgröße konzentrieren", meint Decker.
Weiterer Kostenzuwachs in Sicht
"Reduzierung der Wahlkreise!" rufen also SPD und Opposition, "Deckelung der Ausgleichsmandate!", antworten CDU und CSU. Zwischen den beiden Fronten wächst der Bundestag weiter:
"Das Risiko, dass der kommende Bundestag mindestens genauso groß wird, ist hoch. Aktuelle Umfragen legen sogar eine Größe von 720 Abgeordneten nahe", sagt der Experte. Damit dürfte dann auch kostentechnisch die eine Milliarde-Marke geknackt werden.
Zerbricht die Koalition an der Wahlrechtsreform?
Dabei ist das Thema trotz seiner Dringlichkeit im Koalitionsvertrag gar nicht vereinbart. "Wir müssen unter Umständen davon ausgehen, dass es vorgezogene Neuwahlen geben wird, ohne dass wir ein neues Wahlrecht haben. Das Wahlrecht ist im Grunde eine Sache des Parlaments und nicht der Regierung", so Decker zum Hintergrund.
Ein Grund mehr, warum die Union es wohl als Affront betrachten würde, wenn gegen ihren Willen eine Reform durchgesetzt wird. "Trotzdem glaube ich nicht, dass es deshalb zu einem Koalitionsbruch kommt. Die SPD will eher eine Drohkulisse aufbauen, um die Union zum Einlenken zu bewegen", meint Decker.
Insgeheim, so meint Decker, hofften wohl auch Einige in den Reihen der SPD, dass sich das Wahlsystem nicht ändert. "Die SPD wird bei den nächsten Bundestagswahlen mit den stärksten Verlusten rechnen müssen und würde durch eine Rückkehr zur Sollgröße noch mehr Mandate verlieren", sagt Decker. Außerdem hofften viele Parlamentarier, dass eine Gewöhnung an die Größe seitens der Bürger eintrete.
"Bundestag die Sache aus der Hand nehmen"
Deckers Devise: "Man muss dem Bundestag die Sache jetzt aus der Hand nehmen." Parteien seien, wenn starke Eigeninteressen auf dem Spiel stünden, nicht in der Lage, sich auf eine sachgerechte Lösung zu verständigen. Abhilfe schaffen könne beispielsweise eine Enquete-Kommission mit Sachverständigen und Öffentlichkeitsvertretern, deren erarbeiteter Vorschlag eine gewisse Verbindlichkeit für das Parlament hat.
"Die Enquete-Kommission könnte sich zugleich mit Themen wie der Sperrklausel, dem Zweistimmensystem und dem Wahlalter beschäftigen", schlägt Decker vor. Umfragen zeigten außerdem, dass mehr als ein Drittel der Wähler die Erststimme für die wichtigere Stimme halten - obwohl sie dies nicht ist.
"Wenn die Wähler das System nicht richtig verstehen, ist das ein erhebliches Demokratieproblem. Denn dann wählt dieser Teil gewissermaßen unter falschen Voraussetzungen", warnt Decker.
Verwendete Quellen:
- Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung: "Erst- und Zweitstimme: Wie funktioniert die Bundestagswahl?"
- Interview mit Prof. Dr. Frank Decker
- www.welt.de: "Bundestag muss kleiner und weiblicher werden"
- www.faz.net: "Bundestag kostet 2019 fast eine Milliarde Euro"
- www.lz.de: "In Schloß Holte-Stukenbrock gibt's die größte Pizza der Welt"
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