- Schon länger warnen Beobachter und Sicherheitsexperten davor, dass sich Impfgegner und Corona-Leugner radikalisieren.
- Häufiges Ziel von Attacken sind Impfzentren und Corona-Teststellen – und das dort arbeitende Personal, das mitunter verbal oder körperlich angegangen wird.
- Exklusive Zahlen zeigen nun, wie verbreitet das Phänomen bundesweit ist.
Es passiert nahezu täglich, dass Michael Schmidt während seiner Arbeit beschimpft wird. Aber dass er körperlich angegangen wird, wie am 23. November, war auch für ihn neu: "Der Mann hat mich geschubst. Einen Schlag in Richtung meines Kopfes konnte ich zwar abwehren, auf dem Boden lag ich dennoch", sagt Schmidt, der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will.
Schmidt ist Anästhesist. Seit fast einem Jahr verabreicht der Arzt nun schon Impfungen gegen das Coronavirus. In großen Impfzentren und in mobilen Impfbussen, wie eben an jenem Novembertag vor zwei Wochen an einem Braunschweiger Einkaufszentrum. Der 52-jährige Mann, der Schmidt attackierte, habe sich wohl einen Impfausweis ohne Impfung erschleichen wollen, vermutet Schmidt. Er habe das verhindern wollen.
Bereits in der Warteschlange sei der Mann aufgefallen und hätte andere Leute bepöbelt. Als Schmidt die Polizei rief, ging der 52-Jährige auch auf die Beamten los und verletzte einen von ihnen. Schmidts Schilderungen decken sich mit dem Bericht der Polizei. "Seit dem Vorfall impfen wir nur noch mit Sicherheitsdienst", sagt der Mediziner.
Wie umfangreich das Problem ist, wie oft in den vergangenen Monaten in und an Impf- und Testzentren einzelner Bundesländer randaliert sowie Ärzte und Helfer bedroht, beleidigt und angegriffen wurden, zeigt eine Recherche unserer Redaktion mit exklusiven Zahlen.
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400 erfasste Straftaten seit Anfang des Jahres
Allein für November ergeben Presseberichte und Pressemitteilungen der Polizei eine lange Liste von Attacken:
- Beschmierte und abgebrannte Teststationen in Ahaus und Gronau (Nordhrein-Westfalen),
- eine eingeschlagene Glastür in einem Impfzentrum (auf das bereits im September ein Brandanschlag verübt wurde) in Eich (Sachsen),
- ein Angriff mit Feuerwerkskörpern auf ein mobiles Impfteam in Dresden (Sachsen),
- Randale in einem Impfzentrum im Rathaus von Wuppertal (Nordrhein-Westfalen),
- ein Testcenter in Zittau (Sachsen), das wegen ständiger Anfeindungen dicht machte,
- und eben der Fall des Impfarztes in Braunschweig (Niedersachsen).
Seit Ende 2020 wird in Deutschland geimpft, einige Monate länger getestet. Doch wie oft wurden Impfzentren und Corona-Teststellen und das dort arbeitende Personal Ziel von Attacken? Um das beantworten zu können, hat unsere Redaktion die Innenministerien aller 16 Bundesländer um Zahlen gebeten (aus Hessen kam bis Redaktionsschluss keine Antwort).
Das Ergebnis der Umfrage: Vom 1. Januar bis zum 23. November hat die Polizei bundesweit knapp 400 Straftaten im Zusammenhang mit Impfzentren und Corona-Teststationen erfasst, darunter jeweils mehr als 30 Fälle von Körperverletzung sowie von Bedrohung, Beleidigung und Volksverhetzung, und mehr als 70 Fälle von Sachbeschädigung.
Negativer Spitzenreiter ist das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen: Laut einer Sonderauswertung des Landeskriminalamtes (LKA) wurden dort bis Ende September allein 197 Straftaten gegen Impfzentren erfasst (Zahlen für Corona-Teststellen liegen nicht vor). "Der Anteil der Delikte im Zusammenhang mit Sachbeschädigung, Bedrohung oder Beleidigung sowie Körperverletzung von Beschäftigten liegt dabei bei zehn bis 13 Prozent", erklärte ein Sprecher des NRW-Innenministeriums. In Sachsen wurden bis Ende Oktober 59 Straftaten registriert, in Bayern bis Mitte November 55.
Nicht alle Störaktionen und Vorfälle werden erfasst
Die Dunkelziffer dürfte allerdings riesig sein. In einigen Bundesländern erfassen die Sicherheitsbehörden die Daten nicht systematisch, in anderen berichten sie von "Fällen verbaler oder physischer Übergriffe im Zusammenhang mit offenen Impf-Angeboten" (Hamburg) oder "vereinzelten Sachbeschädigungen in Form von Beschmierungen und leichten Beschädigungen" (Brandenburg), ohne diese genau quantifizieren zu können. Dazu kommen immer wieder Störungen von Impfaktionen ohne strafbare Handlungen, sodass diese gar nicht in der Statistik auftauchen.
Fakt ist: In allen Bundesländern wird fortwährend mit Attacken gerechnet, wie die Sicherheitsbehörden der Länder unserer Redaktion bestätigen. "2021 war grundsätzlich von einer abstrakten Gefährdung von Impfzentren sowie Testzentren geprägt", teilte etwa ein Sprecher des baden-württembergischen Innenministeriums mit. Die Berliner Polizei sieht zudem eine "abstrakte Gefährdung" für Arztpraxen sowie die Transportlogistik und Lagerstätten für Corona-Vakzine.
Die Abteilung Polizeilicher Staatsschutz des Bundeskriminalamts (BKA) schätzt "Impfgegner oder Corona-Leugner" als "relevantes Risiko" im Zusammenhang mit Angriffen auf Impf- und Corona-Testzentren ein. "Auch für das in den jeweiligen Einrichtungen tätige Personal besteht die Gefahr, zumindest verbalen Anfeindungen bis hin zu Straftaten (Körperverletzungsdelikte) ausgesetzt zu sein", teilte das BKA auf Anfrage unserer Redaktion mit.
Nicht nur Impfgegner und Corona-Leugner reagieren aggressiv
"Es wird nicht besser", sagt auch Impfarzt Michael Schmidt. Er schätzt, dass er neben seiner Tätigkeit in mobilen Impfteams bisher mindestens 50 Tage in Impfzentren gearbeitet hat. Dort habe er immer wieder mitbekommen, wie randaliert wurde, Schilder seien umgetreten und es sei gepöbelt worden.
"Viele lassen ihren Frust an uns aus, weil sie sich wegen der immer strenger werdenden Regeln unter Druck gesetzt fühlen, sich impfen zu lassen", sagt Schmidt. Die Täter seien aber keineswegs immer Querdenker, Corona-Leugner oder Impfgegner. "Es gibt auch Geimpfte, die bei ihrer Boosterimpfung den Anspruch haben, den einen bestimmten Impfstoff zu bekommen. Ist der aber gerade nicht da, ticken sie aus."
"Die aufgeheizte Stimmung kann auch in konkrete Taten münden"
Die Sicherheitsbehörden glauben, dass die Bedrohung nun weiter zunehmen könnte. Die Gefährdungslage unterliege verschiedenen Einflussfaktoren, wie den Sieben-Tage-Inzidenzen, der Diskussionen über das Impfalter und der Impfpflicht, den Umgang mit Geimpften und Ungeimpften sowie den jeweils aktuellen staatlichen Corona-Maßnahmen, schreibt eine Sprecherin des Innenministeriums Mecklenburg-Vorpommerns auf Anfrage.
"Durch die niedrigen Inzidenzen im Sommer des Jahres relativierte sich die zu Beginn der Impfkampagne 2021 vorliegende abstrakte Gefährdung zunächst, sie ist durch die aktuellen Entwicklungen jedoch wieder mit dieser vergleichbar", erklärt die Sprecherin weiter. Auch aus Thüringen heißt es: "Die weitere Entwicklung ist abhängig von der medialen Berichterstattung sowie der hohen Dynamik und Emotionalität, die dem Themenkomplex Corona und Impfung innewohnt. Einzelne Straftaten können deshalb in naher Zukunft nicht gänzlich ausgeschlossen und müssen demnach in Betracht gezogen werden."
Diese Einschätzungen teilt auch Mediziner Schmidt. Er sagt: "Wenn die Impfpflicht kommt, dann gehe ich davon aus, dass man uns eine Polizeistreife hinstellen muss."
In einigen Orten in Sachsen ist das bereits jetzt der Fall. Die bisherigen Erfahrungen hätten gezeigt, "dass die aufgeheizte Stimmung in Teilen der Gesellschaft auch in konkrete Taten münden kann", erklärt ein Sprecher des sächsischen Innenministeriums. Die Sicherheitsbehörden stünden deshalb mit dem Roten Kreuz "im ständigen Austausch", die Polizei würde in die Sicherheitskontrollen "lageangepasst" mit eingebunden und mitunter mobile Impfteams begleiten.
Verwendete Quellen:
- Telefonat mit Impfarzt Michael Schmidt
- Schriftliche Anfrage an die Innenministerien der 16 Bundesländer
- Schriftliche Anfrage an das Bundeskriminalamt
- Pressemitteilungen der Polizei Braunschweig und Zwickau
- WDR: "Brandanschläge auf Corona-Teststationen in Ahaus und Gronau"
- MDR: "Corona-Testcenter in Zittau schließt wegen Anfeindungen"
- Solinger Tageblatt: "Impfwillige randalieren in Wuppertaler Rathaus"
- Social-Media-Kanäle des Deutschen Roten Kreuzes Sachsen
- eigene Recherchen
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