Demonstranten, die auf die Treppen zum Reichstag stürmen, brennende Baucontainer, vorsätzliche Missachtung der Hygieneauflagen und eine Bühne für die rechte Szene: Neben größtenteils friedlichen Protesten lieferte das Wochenende in Berlin auch Bilder von Gewalt und Widerstand. Entsetzen bei vielen Politikern folgte. Hätte sich das angesichts der Warnzeichen im Vorfeld verhindern lassen?
Sie müssen im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses Rede und Antwort stehen: Innensenator Andreas Geisel und die Berliner Polizeiführung haben nach den Großdemonstrationen am Samstag (29. August) einige Fragen zu beantworten.
Wie beispielsweise konnten Demonstranten Absperrgitter am Reichstagsgebäude überwinden, die Treppen mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen stürmen – und zunächst nur dem Widerstand von drei Polizisten begegnen? Auch wenn die Proteste mit rund 38.000 Teilnehmern überwiegend friedlich verliefen, nannte Geisel (SPD) die Bilder dieser Szenen "beschämend".
Eine Anti-Corona-Demo war wegen Nicht-Einhaltung der Abstandsgebote und Maskenpflicht von der Polizei aufgelöst worden, die Proteste gingen aber an verschiedenen Stellen in der Hauptstadt weiter: Rund um die Siegessäule versammelten sich Zehntausende, "Querdenken-Initiator" Michael Ballweg forderte unter Beifall die Aufhebung aller zum Schutz vor dem Coronavirus erlassenen Gesetze sowie die sofortige Abdankung der Bundesregierung.
Entsetzen in Politik und Gesellschaft
Bilanz am Ende des Tages: Auflagen wurden nicht eingehalten, eine Versammlung musste aufgelöst werden, außerdem gab es mehr als 300 Festnahmen, mehrere verletzte Beamte und mehr als 100 Strafanzeigen. Allein 200 Festnahmen verzeichnete die Polizei vor der russischen Botschaft, wo Reichsbürger und Rechtsextreme Steine und Flaschen schmissen.
Entsetzen in Politik und Gesellschaft war die Folge. "Wir sind bestürzt und zutiefst besorgt über die gestrigen Bilder vor dem Reichstagsgebäude" twitterte der "Zentralrat der Juden in Deutschland" am Sonntag.
Warnzeichen im Vorfeld
Aber verdient auch das Einsatzkonzept der Berliner Polizei Lob? Schließlich hatte es im Vorfeld der Großdemonstrationen jede Menge Warnzeichen gegeben: Schon Tage im Vorfeld hatten Vertreter der rechten und rechtsextremen Szene zum "Sturm auf Berlin" aufgerufen und in den sozialen Netzwerken mobilisiert.
Auch die Demo-Erfahrungen vom 1. August hatten gezeigt, welche Klientel sich bei der Großdemonstration mischen würde: Reichsbürger, Verschwörungsideologen, Neonazis, AfDler, Identitäre, Impfgegner und Esoteriker bekamen eine Bühne geboten. Von einer "neuen Dimension" hatte Polizeivizepräsident Marco Langner angesichts der offenen Gewaltbereitschaft in den sozialen Medien gesprochen.
Kurzfristiges Hin und Her
Im Vorfeld des 29. August hatte die Polizei deshalb angekündigt, mit einem Großaufgebot von 3000 Beamten vor Ort zu sein, mit Unterstützung von Bund und Ländern. "Wir sind insgesamt gut vorbereitet", hatte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik auf einer Pressekonferenz am Freitag verkündet. Absperrgitter und Wasserwerfer standen zu diesem Zeitpunkt schon bereit.
Dennoch hatte Polizeidirektor Stephan Katte betont, es sei eine "deutliche Herausforderung" für die Polizei, dass die Entscheidung über die Demonstration erst so kurzfristig fällt. Noch kurz zuvor war die Einsatzleitung von einem Verbot der Demonstration ausgegangen, das Verwaltungsgericht hatte die Kundgebung gegen die Corona-Politik aber unter Auflagen erlaubt. Die Polizei hatte dagegen wiederum Beschwerde eingelegt, scheiterte aber in zweiter Instanz vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin.
Auflösung der Anti-Corona-Demo
Gleichzeitig wurde nach den ursprünglichen Demo-Verboten versucht, die Polizeiarbeit durch immer neue Anmeldungen von Ersatzdemonstrationen zu verlangsamen. "Wir werden mit Anmeldungen überschwemmt mit dem Ziel, unsere Arbeit zu erschweren", sagte Polizeivizepräsident Langner. Dennoch hatte die Berliner Polizei vorgesorgt. "Wir werden selbstverständlich für einen umfassenden Schutz der Versammlungsfreiheit sorgen und auf die Einhaltung der Auflagen achten."
Eben jene sah die Polizei am Samstag aber schnell nicht mehr gewährleistet: Gegen 13 Uhr tönte bereits aus den Lautsprechern: "Die nach der Infektionsschutzverordnung vorgesehenen Mindestabstände werden von Ihnen flächendeckend trotz wiederholter Aufforderung nicht eingehalten. Der Versammlungsleiter hat keine Möglichkeiten auf Sie einzuwirken". Die Auflösung der Versammlung rund um die Straße "Unter den Linden" folgte.
Demonstranten hissten Reichsfahne
Im Zuge dessen hatte die Polizei auch einen Hubschrauber angefordert, um sich einen besseren Überblick über die Situation zu verschaffen. Viele Demonstranten verließen freiwillig die Demonstration, dennoch kam es laut Berliner Polizei am Samstag zu Sitzblockaden, Hindernisse wurden auf Fahrbahnen verbracht, ein Baucontainer brannte und rund 40 Menschen legten sich Boxbandagen an. Auch wenn die Polizei sich hier durchsetzen konnte: Nach Auflösung der ersten Demonstration in Berlin-Mitte versammelten sich am Nachmittag viele Tausend Menschen an der Siegessäule und der Straße des 17. Juni.
Im Innenausschuss beurteilte Slowik am Montag: "Das Einsatzkonzept war tragfähig, es waren ausreichende Einsatzkräfte vorhanden." Die Bilder, die sich vor dem Reichstagsgebäude boten, sprechen eine andere Sprache: In Videos, die zahlreich bei Twitter geteilt werden, stürmen Hunderte Demonstranten die Treppen vor dem Reichstag. Nur drei Polizisten, davon einer ohne Helm, stehen ihnen entgegen. Manche Demonstranten hissen schwarz-weiß-rote Flaggen, die einstige Flagge des Deutschen Reichs (1871).
"Wir können nicht immer überall präsent sein"
Dass die Demonstranten die Absperrungen überhaupt überwinden konnten, erklärte die Polizei in einer Mitteilung damit, dass kurz nach 19 Uhr viele Demonstranten vom Brandenburger Tor zur Wiese vor dem Parlament gezogen waren. Um dies zu unterbinden, seien Polizisten auf der südlichen Seite des Reichstags zusammengezogen worden. Es heißt: "Diese Phase nutzte eine größere Personengruppe von etwa 300 bis 400 Personen, überwand aufgestellte Absperrgitter und gelangte so auf die Außentreppe des Reichstages."
Polizei-Pressesprecher Tilo Cablitz ergänzte: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt." Weitere Polizisten hätten jedoch schnell reagiert. "Ein Eindringen in den Reichstag war den Personen daher nicht möglich", stellt die Polizei klar. Polizeipräsidentin Slowik kündigte dennoch an, die Absperrlinien zum Reichstag künftig noch deutlicher und enger zu schützen.
Versagen an anderer Stelle?
Der Verfassungsschutz steht angesichts der Bilder vor dem Reichstag ebenfalls in der Kritik. Planlos erscheint im Nachgang des Wochenendes die Einschätzung des Präsidenten Thomas Haldenwang, Rechtsextremisten sei es nicht gelungen, die Hoheit über das Demonstrationsgeschehen zu bekommen und die Anhänger der Verschwörungstheorien bewegten sich noch "auf dem Boden des Grundgesetzes".
Beobachter fürchten zudem, die Bilder vom "Sturm auf den Reichstag" könnten als eine Art "Erweckungserlebnis" für die rechte Szene dienen. So war beispielsweise auch Gavin Singer von der "Jungen Alternative" (JA) mit auf die Treppen gestürmt.
Auch die Politik muss sich daher den Vorwurf des Versagens gefallen lassen: Zwar ist das Vertrauen in die Bundesregierung während der Pandemie durchgehend hoch, dennoch sind die Demonstranten, die sich außerhalb des demokratischen Spektrums bewegen, unübersehbar.
Neben dem Gesundheitsrisiko durch das Coronavirus gilt es also vor allem, die Demokratie-Risiken zu bekämpfen – von unterwanderten Protesten bis hin zu rechtsextremen Parolen.
Verwendete Quellen:
- "Berlin.de": Innensenator Geisel: Ereignisse am Reichstag beschämend
- Twitter-Auftritte der Polizei Berlin
- Twitter-Profil Zentralrat der Juden in Deutschland
- Twitter-Profil von Annalena Baerbock
- Twitter-Profil von Annegret Kramp-Karrenbauer
- "ZDF.de": Corona-Demo in Berlin darf stattfinden
- "Tagesspiegel.de": Kundgebungen gegen Corona-Politik dürfen stattfinden
- "Deutschlandfunk.de": Demos gegen Corona-Auflagen nicht von Rechtsextremisten unterwandert
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