Nach der Rückzugsankündigung von Fraktionschefin Mohamed Ali geht in der Linken die Sorge vor weiteren Austritten um. Der Ostbeauftragte Sören Pellmann will das Wagenknecht-Lager stärker einbinden. Ob die Linke vor dem Aus steht, darüber hat unsere Redaktion mit ihm gesprochen.

Ein Interview

Der Leipziger ist einer von drei Linken-Bundestagsabgeordneten mit Direktmandat und Ostbeauftragter seiner Partei. Er fordert, den Streit sofort zu beenden und alle Teile der Partei stärker einzubinden.

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Herr Pellmann, mit der Abschiedsankündigung der Fraktionsvorsitzenden Mohamed Ali könnte die Linken-Bundestagsfraktion bald Geschichte sein. Ist die Sorge berechtigt?

Sören Pellmann: Amira Mohamed Ali kandidiert zwar nicht mehr als Vorsitzende der Fraktion. Sie bleibt aber ein Teil der Fraktion. Dass es Sorgen und Ängste gibt, dass wir den Fraktionsstatus verlieren, ist natürlich berechtigt. Sollten drei oder mehr Kandidaten die Fraktion verlassen, müsste diese aufgelöst und die Mitarbeiter entlassen werden. Dann könnten die Verbliebenen im Bundestag einen Antrag stellen, um eine Anerkennung als Gruppe zu bekommen.

Mohamed Ali begründete ihren Rücktritt unter anderem mit dem Umgang mit Sahra Wagenknecht, speziell dem Beschluss des Parteivorstands vom 10. Juni, in dem es heißt: "Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Sahra Wagenknecht." Spitzt sich der Machtkampf zwischen Fraktion und Parteivorstand immer weiter zu?

Es gibt keinen Machtkampf zwischen Fraktion und Parteivorstand. Es ging Mohamed Ali hauptsächlich darum, dass sie eine Zukunft der Linken ohne Sahra Wagenknecht für falsch hält. Das teile ich im Übrigen. Sahra Wagenknecht ist Mitglied der Partei und der Fraktion. Sie hat nicht angekündigt, die Partei in nächster Zeit zu verlassen. Es gibt keinen Ausschlussantrag und sie ist die bekannteste und populärste Politikerin, die wir in den Reihen der Linken haben. Von daher sind wir gut beraten, es gemeinsam zu versuchen, um bessere Zeiten für die Linke zu erreichen.

Sören Pellmann: Parteivorstand muss Wagenknecht die Hand reichen

Wie könnte das aussehen?

Der Parteivorstand muss ihr die Hand reichen, indem man ihr zum Beispiel eine Kandidatur zur Europawahl bietet. Ob sie das Angebot dann annimmt, ist eine andere Frage. Hauptsache, man geht auf sie zu.

Die Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan haben die Aktivistin Carola Rackete für die Europawahl vorgeschlagen.

Nur weil man noch eine andere Kandidatin vorschlägt, heißt das ja nicht, dass die andere automatisch ausscheidet. Die Linke wäre gut beraten, den verschiedenen Milieus, die von den jeweils Kandidierenden angesprochen werden, auch ein Angebot zu machen.

Welche Milieus meinen Sie konkret?

Die einen in der Partei identifizieren sich mit Themen der Klimabewegung, der Klimakrise sowie Flucht und Migration. Dafür steht Carola Rackete. Für Wirtschafts- und Steuerthemen steht der erfahrene Europapolitiker Martin Schirdewan. Und Sahra Wagenknecht steht wie keine andere in der Partei für die sozialen Themen. Die Linke muss ein politisches, soziales Angebot für die klassischen Plattenbaugebiete, die innerstädtischen Altbaugebiete und den ländlichen Raum gleichermaßen bieten.

Diese verschiedenen Lager in der Linkspartei: Wer gewinnt den Richtungsstreit?

Streit um Richtung und Ausrichtung gibt es in der Partei schon immer. Jetzt kommt hinzu, dass nicht mehr über Inhalte, sondern ausschließlich über Personen gestritten wird. Das halte ich für falsch. Alle sind gut beraten, diesen Streit sofort zu beenden.

"Der Parteivorstand muss alle Teile der Partei integrieren"

Sie nehmen ja ähnliche Positionen wie Sahra Wagenknecht ein, etwa hinsichtlich des Umgangs mit Russland. Sie haben an ihrer Friedensdemo im Februar teilgenommen. Würden Sie in eine Wagenknecht-Partei eintreten?

Dazu habe ich mich früh und klar bekannt: Ich bleibe in der Linken. Eine andere Perspektive sehe ich nicht für mich.

Ihr Parteikollege Klaus Ernst meint, dass nicht Sahra Wagenknecht, sondern der Vorstand die Partei spalte und für "Unruhe" sorge. Es existiere "eine große Truppe politikunfähiger Clowns in der Partei", sagte er gegenüber der Frankfurter Rundschau. Sehen Sie das ähnlich?

Erstmal würde ich niemanden in oder außerhalb der Partei als 'Clown' bezeichnen. Das wäre nicht meine Wortwahl. Ich selbst habe ja 2022 beim Parteitag in Erfurt für den Parteivorsitz kandidiert. Das hat bekanntlich nicht geklappt. Verlieren gehört eben auch zur Demokratie. Wenn der jetzige Parteivorstand es ernst meint, muss er alle Teile der Partei integrieren - und nicht einfach per Beschluss ausschließen.

Was sollte der Parteivorstand besser machen?

Er muss auf alle großen Flügel und Strömungen der Partei zugehen. Die Breite und Pluralität der Partei ist nicht ausreichend im Parteivorstand vertreten, insbesondere die sozialistische und antikapitalistische Linke sind kaum oder gar nicht vertreten - gerade diese haben schon mit Sahra Wagenknecht zusammengearbeitet oder stehen ihren Inhalten nahe. Das spricht doch für sich.

Bei Parteikonvent soll auch die Basis angehört werden

Wie erklären Sie sich das?

Ob es Absicht ist, weiß ich nicht. Aber der Parteivorstand repräsentiert so nicht die Basis der Linken.

Ihr Vorschlag eines Parteikonvents wurde von Janine Wissler begrüßt. Warum sollten dort die völlig verhärteten Fronten aufgeweicht werden? Das hätte man doch schon längst tun können, etwa auf dem Parteitag in Erfurt.

Die Situation hatte sich dort bereits zwischen den Lagern zugespitzt. Deswegen haben wir als Leipziger Stadtverband einen Sonderparteitag gefordert. Leider wurde das notwendige Quorum nicht ganz erreicht. Aus finanziellen Gründen hat es dann der Parteivorstand gar nicht stattfinden lassen.

Mein Vorschlag eines Parteikonvents wäre eine abgespeckte Variante aus Bundestagsfraktion, Parteivorstand, aus Landesvorsitzenden und Kreis- und Stadtvorsitzenden. Letztere sind besonders wichtig, weil die Basisvertreter meistens in der Aufzählung fehlen. Bei solch einem kleinen Parteitag würden große Teile der Partei miteinander sprechen.

Sollte Sahra Wagenknecht auch dabei sein?

Sie ist nach wie vor Mitglied unserer gemeinsamen Partei und Fraktion. Ich fände es gut, wenn man sie einlädt und wenn sie dabei ist.

Welchen Schritt müsste Sahra Wagenknecht auf den Parteivorstand zugehen? Ihr kokettieren mit der Gründung einer neuen Partei ist ja auch ein gutes Druckmittel, womit sie die Partei-Spitze provozieren kann.

Zwischen den zentralen Akteuren brauchen wir schnellstmöglich vertrauensbildende Maßnahmen, welche Grundlage für weitere Gespräche sein werden. Dieser Prozess sollte moderiert werden. Es müssen sich alle, wirklich alle bewegen.

Über Wagenknecht-Partei: "Sie ist noch in der Abwägung"

Haben Sie persönlich zu ihr Kontakt?

Sie war gerade im Urlaub und ich auf Sommertour durch meinen Wahlkreis. Wir telefonieren aber hin und wieder miteinander und sehen uns in den Sitzungswochen in Berlin.

Wissen Sie, wann Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen will?

Sie ist noch mitten in der Abwägung. Argumente dafür und dagegen, Hingabe, Zeitaufwand - da ist sie mit sich und ihren Beratern noch nicht am Ende der Diskussion.

Würde eine neue Partei das Ende der Linken bedeuten? Eine Umfrage in Thüringen ergab 25 Prozent für eine Wagenknecht-Partei.

In der Umfrage war ja spannend, dass die Stimmen weniger von der Linken kamen als aus den Kreisen von CDU und AfD. Aber ja: Sollte es zwei linke Parteien geben, wird es sehr, sehr schwierig. Daran kann doch niemand ein Interesse haben.

Für Menschen ist Bezahlbarkeit von alltäglichen Dingen am wichtigsten

Sie sind einer von drei Linken-Bundestagsabgeordneten mit Direktmandat. Womit können Sie Ihre Wähler nach wie vor überzeugen? Mit Klimaschutz-Argumenten, wie es der Parteivorstand versucht, oder mit Migrations-Begrenzung und dem Einstehen für russische Energie?

Weder noch. Auf meiner fünfwöchigen Sommertour steht die Bezahlbarkeit von alltäglichen Dingen des Lebens auf dem ersten Platz: Lebensmittel, Energie, Strom, Benzin. In Leipzig steigen die Mieten immer weiter an, sodass die Bezahlbarkeit von Wohnungen auch immer mehr Thema wird. Das sind die dringenden Themen. Wenn wir dazu noch die soziale und die Gesundheitsfrage als Linke mit einer Stimme bearbeiten und versuchen zu beantworten, wären wir schon ein gutes Stück weiter.

Als Ostbeauftragter der Linken schauen Sie wahrscheinlich auch mit Sorge auf den Umfrage-Höhenflug der AfD, der im Osten am deutlichsten zu sehen ist: Warum erreichen Sie immer weniger Menschen?

Erstmal hat sich die Wählerschaft verändert. Menschen sterben, andere kommen hinzu. Zweitens wählen uns frühere Wähler nicht mehr, weil sie die Linke im Establishment sehen, weil wir in verschiedenen Landtagen, teilweise auch Landesregierungen, sitzen, wir also als Teil des Systems wahrgenommen werden. Dazu hat die AfD viele Lücken und Nischen im Osten besetzt, wo wir früher präsenter waren.

Warum kann die Linke dem nichts entgegensetzten?

Wählerinnen und Wähler finden es total unattraktiv, wenn man sich nur mit sich selbst beschäftigt und ständig streitet. Die nächsten Gradmesser werden die Europawahlen im Juni und die Kommunalwahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Darauf schaue ich mit einer gewissen Sorge. Und bei den Landtagswahlen könnte uns der europaweite Rechtsruck auch hier im Osten treffen. Den Höhenflug der AfD stoppt nur konsequent soziale Politik, Antifa heißt Wohlfahrtsstaat. Dafür zu kämpfen, brauchen wir eine starke und geeinte Linke.

Zur Person: Der Linken-Politiker Sören Pellmann errang bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 das Direktmandat im Bundestagswahlkreis Leipzig II. Pellmann studierte zuerst Jura, dann Lehramt und wurde Grundschullehrer für Förderschulen mit den Schwerpunkten Geistigbehindertenpädagogik und Lernbehindertenpädagogik. Als Jugendlicher trat er in die PDS ein, die sich später mit der WASG zu Die Linke vereinigte.
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