Weil sich Deutschland und Russland entfremdet haben, fordert Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck eine neue Ostpolitik. Im Interview erklärt er, wie es dazu kam – und wie seine Lösung aussieht.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Sanktionen, Geheimdienstmorde und Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2: Unzweifelhaft war das Verhältnis zwischen Russland und der Europäischen Union schon besser.

Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck hält daher die aktuelle Ostpolitik der Bundesregierung für gescheitert. In seinem jüngst erschienen Buch fordert Platzeck nun einen neuen Umgang mit Russland. Wie der aus seiner Sicht aussehen soll, skizziert der 66-Jährige im Interview.

Wenn Sie sich zurückerinnern: Was war Ihre erste Begegnung mit Russland oder mit Menschen aus diesem Land?

Matthias Platzeck: Ich bin in Potsdam aufgewachsen, in der Nähe der Glienicker Brücke. Dort befand sich zu Zeiten der Teilung Deutschlands ein alliierter Grenzübergang, der auch von Russen bewacht wurde. Die russischen Soldaten wohnten dort, wo wir auch wohnten. Neben uns gab es einen russischen Sender, zwei Häuser weiter stand die russische Kommandantur und die Soldaten waren zu uns Kindern immer sehr freundlich. Die ersten Lebensjahre hat mich Russland quasi immer begleitet. Das prägt einen natürlich auch.

Sie fordern nun eine neue Ostpolitik. Wo sehen Sie die Probleme der aktuellen?

Ich bin ja von Beruf Kybernetiker und deswegen ein Stück weit nüchtern veranlagt. Ich schaue mir Prozesse auf einer Zeitachse an. Wenn ich auf das vergangene halbe Jahrzehnt blicke – wo wir mit Sanktionen versucht haben, Russland auf bestimmte Wege zu bringen, ob auf der Krim, der Ostukraine oder anderswo –, dann stelle ich fest: Wir stehen politisch vor einem Scherbenhaufen. Alle Militärexperten bestätigen, dass die Gefahr einer Eskalation in den vergangenen Jahren gewachsen ist. Die Situation ist heute explosiver als im Kalten Krieg. Auch die Stimmung in Russland selbst ist nicht pro-westlicher, sondern eher nationalistischer geworden. Wenn man diese Befunde nimmt, dann frage ich mich: Kann es so weitergehen? Wollen wir nicht einmal überlegen, ob wir vielleicht andere Ansätze finden, die uns wieder ein Stück näher zusammenbringen?

"Russland strebt eine Sicherheitsarchitektur auf Augenhöhe an"

Was schlagen Sie vor? Wie könnte so ein Ansatz Ihrer Meinung nach aussehen?

Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Verhältnis zu Russland. Immer habe ich mich gefragt, unabhängig vom aktuellen Präsidenten: Was ist der beherrschende Antrieb und Wunsch russischer Politik? Diesen Wunsch kann man relativ klar herausdestillieren, Wladimir Putin hat ihn 2001 bei seiner Rede im Bundestag zum Ausdruck gebracht: Russland strebt mit uns zusammen eine Sicherheitsarchitektur auf Augenhöhe an, die den Kontinent dann praktisch befriedet. Das Problem: Dieser Wunsch ist nie wirklich bis zum Ende gehört und schon gar nicht bearbeitet worden. Das ist für mich eine der Hauptursachen für das belastete Verhältnis heute.

Was heißt das jetzt für uns konkret? Stichwort: Krim-Annexion.

Es war eine völkerrechtswidrige Annexion. Aber ich sehe im Moment keine relevanten Kräfte in Russland, die diese Situation verändern würden. Deshalb gehört das Thema erst einmal zur Seite gestellt und zwei Banderolen draufgeklebt: Wir kleben darauf, dass wir die Annexion niemals anerkennen werden. Und die Russen kleben wahrscheinlich darauf, dass sie die Halbinsel niemals wieder hergeben. So könnte ein Gesprächskorridor geöffnet werden, um auch endlich für die Menschen in der Ostukraine einigermaßen akzeptable Lebensbedingungen zu schaffen, dass dort keine Menschen mehr zu Tode kommen. Wir müssen in der Ukraine insgesamt Wege finden, die Staatlichkeit wiederherzustellen. Stück für Stück könnte man sich dann endlich den Themen widmen, die uns begleiten und uns Sorgen machen. Ob Terrorismus, Flüchtlingsbewegungen, Klimawandel oder Abrüstung – keines dieser Themen ist ohne Russland lösbar. Deshalb muss man eben auch mal ein Problem der Kategorie eins temporär zur Seite schieben, um sich einem der Kategorie zwei zu widmen.

Wenn wir zurückblicken: Willy Brandts Entspannungspolitik basierte auf klaren Prinzipien: Gewaltverzicht, Souveränität aller Staaten Europas, Menschenrechte und Rüstungskontrolle. All das scheint Putin heute nicht zu interessieren. Russische Geheimdienstler morden in Europa, Russland hat die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und führt im Osten der Ukraine einen unerklärten Krieg. Wie kommen die EU und Russland trotzdem zusammen?

Wir müssen zuerst einmal realistisch bleiben. Wer behauptet, in der Sowjetunion hätten in den Sechziger, Siebziger oder Achtziger Jahren Menschenrechte oder Selbstbestimmung der Völker in irgendeiner Form eine relevante Rolle gespielt, der ist nicht von dieser Welt. Als hätte Willy Brandt damals unter ganz anderen Bedingungen eine Entspannungspolitik gemacht. Er hatte Vorstellungen, wie die Welt sein sollte. Die haben wir auch, keine Frage. Aber diese Vorstellungen waren in der Sowjetunion realistischerweise – und das wusste Willy Brandt am besten – überhaupt nicht umsetzbar. Wir haben heute in Russland zumindest zarte Pflänzchen eines Rechtssystems oder ein paar freie Zeitungen. So etwas gab es nicht unter Breschnew – wer opponierte verschwand. Von daher hat Brandt unter ganz anderen Bedingungen Entspannungspolitik gemacht – und das müsste heute wirklich allemal möglich sein. Deshalb sollten wir die Dinge jetzt nicht verdrehen und idealisieren. Die Russen haben den Prager Frühling 1968 brutal mit militärischer Gewalt niedergeschlagen. Und trotzdem haben Willy Brandt und Egon Bahr Verhandlungen über die Grundlagen des Miteinander mit der Sowjetunion begonnen und erfolgreich zum Abschluss gebracht.

"Die 1990er Jahre sind für viele Russen eine traumatische Zeit gewesen"

Aber war und ist es nicht eines der Grundprobleme, dass man aneinander vorbeiredet? Zwar gleiche Worte verwendet, Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte, aber Unterschiedliches meint?

Es gibt zwei Dinge, die ich immer wieder bemerkt habe: Erstens, wenn wir mit unseren Konnotationen über Privatisierung reden, über Einführung der Marktwirtschaft, über Demokratie, dann stellen wir nicht selten fest, dass das bei nicht wenigen Russen erst einmal ganz anders aufgefasst wird. Weil bei ihnen immer wieder die Erinnerung an die 1990er Jahre hochkommt. Für viele ist das eine traumatische Zeit gewesen: Damals brach die staatliche Ordnung zusammen, der Supermacht-Status ging verloren, die Lebensbedingungen haben sich dramatisch verschlechtert, die Renten wurden nicht mehr ausgezahlt. Und 1998 musste schließlich der russische Staat seine Zahlungsunfähigkeit erklären.

Und zweitens müssen wir einfach wahrnehmen, dass die russische Gesellschaft ganz andere Wege hinter sich hat. Nach Jahrhunderten der Zarenzeit, nach 70 Jahren kommunistischer Diktatur und dem Tohuwabohu in den 1990er Jahren unter Boris Jelzin, beginnt sich diese Gesellschaft jetzt erst ganz langsam zu formieren, Wege zu suchen, Ziele zu formulieren und ihr eigenes Ich zu finden. Das wird noch ein ganz langer, bestimmt auch schwieriger Weg werden, wo man nicht genau weiß, wo er hinführt. Aber wir sollten diese Gesellschaft nicht mit unseren Vorstellungen und Erfahrungen aus 70 Jahren offener, liberaler Gesellschaft überfordern. Wir sollten darauf achten, dass die Maßstäbe auch stimmen.

Europa hat gerade bei den jungen Leuten eine starke Anziehungskraft.

Ich bin froh, dass das so ist. Nicht nur Europa, sondern auch Deutschland hat laut Umfragen immer noch einen hohen Stellenwert. Das finde ich phänomenal. Darauf kann man sehr wohl aufbauen. Ich würde mir nur wünschen, dass wir diesen Baustein auch richtig nutzen. Seite Jahren bemühen wir uns in Debatten mit Bundestagsabgeordneten und Regierungsvertretern, wenigstens für Menschen bis 25 Jahre die Visumspflicht für Reisen ins jeweils andere Land abzuschaffen. Doch es scheitert nicht selten an den Vorbehalten, etwa Sicherheitsgründe oder organisierte Kriminalität.

In Ihrem neuen Buch sprechen Sie von einem "gemeinsamen europäischen Haus" Europas und Russlands. Wenn wir jetzt auf den Ist-Zustand schauen: Wie viel steht da von dem Haus?

Vom Haus steht leider gar nichts. Das war ein Traum. Wir waren ja kurz davor, das Fundament zu bauen. Damit meine ich unter anderem die Charta von Paris, die sich heute ein bisschen wie ein Märchenbuch liest, wenn man sie im Detail durchgeht. Aber wir haben es ja nicht einmal geschafft, wirklich den Grundstein zu legen. Nun gibt es glücklicherweise einige Initiativen, die viel Vorarbeit leisten für ein solches europäisches Haus. Das macht mir dann doch immer wieder Mut: Es gibt trotz allem überall Menschen, die diesen Traum nicht aufgeben wollen.

Matthias Platzeck ist seit 2014 Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und seit 1995 Mitglied der SPD. Von 2002 bis 2013 war er Ministerpräsident von Brandenburg.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.