Wie seine Vorgängerin Christine Lambrecht ist auch der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius mit der Frage nach einer Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine konfrontiert. Dass es aber schon lange um mehr als nur um Kampfpanzer geht, zeigte die Diskussion am Donnerstagabend bei "Maybrit Illner". Und die Botschaften dort sind nicht gerade ermutigend.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Es hätte viel später nicht sein dürfen. Kurz vor der Ramstein-Konferenz am Freitag übernimmt Boris Pistorius das Amt des Verteidigungsministers von seiner Vorgängerin Christine Lambrecht. Doch was wird Pistorius anders machen? Dementsprechend fragte Maybrit Illner am Donnerstagabend ihre Gäste: "Neuer Minister, alte Probleme - letzte Chance für die Zeitenwende?"

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Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner

  • Kevin Kühnert (SPD): Der SPD-Generalsekretär betont, wie viel Deutschland bereits geleistet habe. Über die Leopard-2-Lieferungen sagt Kühnert: "Es ist nicht die Wunderwaffe, die den Krieg entscheiden wird, sondern es ist eine von vielen Fragen. Es ist kein Game-Changer."
  • Carlo Masala: Der Professor an der Universität der Bundeswehr in München fordert ein schnelles Umdenken in Bezug auf das Beschaffungswesen und die Waffen- und Munitionsproduktion: "Zeitenwende gibt es innenpolitisch. Außenpolitisch oder verteidigungspolitisch haben wir keine Zeitenwende, weil dieses ganze System bewegt sich noch so, als ob Russland die Ukraine nie überfallen hätte."
  • Thomas Kleine-Brockhoff: Kleine-Brockhoff ist Teil des Thinktanks German Marshall Fund of the United States und fordert in Bezug auf die Lieferung schwerer Waffen wie Panzer: "Deutschland darf nicht die Verhinderungsmacht sein."
  • Serap Güler (CDU): Güler ist Mitglied des Verteidigungsausschusses und sagt über die bisherige Weigerung Olaf Scholz': "Beim Kampfpanzer hat der Kanzler von Anfang an eine rote Linie gezogen und kann eigentlich nicht erklären, wieso diese Linie existiert."
  • Anna Sauerbrey: Die Journalistin sagt über Christine Lambrecht: "Es wurde sehr stark auf sie geschaut und dabei wurde übersehen, dass sie ein paar der Dinge auch gar nicht lösen konnte, weil es eigentlich strategische Fragen sind, die das Bundeskanzleramt am Ende beantworten muss."
  • André Wüstner: Wüstner ist Oberst und Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes. Er sagt zum Zustand der Bundeswehr: "Wir sind mehr oder weniger nackt. Die Lage in der Bundeswehr ist prekär, sie ist so schwierig wie nie zuvor."

Die Themen des Abends

Natürlich ist zuerst die Personalie Pistorius Thema und hier erhält der neue Verteidigungsminister einen Vertrauensvorschuss von Oppositionsvertreterin Güler: "Er bringt gute Voraussetzungen mit, er hat zehn Jahre sehr erfolgreich ein Innenministerium geleitet, er ist parteiübergreifend sehr anerkannt. (…) Er ist in der Sicherheitspolitik sehr gut bewandert."

Kevin Kühnert sieht in der Qualität der Wahl von Boris Pistorius, dass Kanzler Scholz "nicht hilflos" in seiner Entscheidung gewesen sei, sondern "eine gute Idee" gehabt habe. In Bezug auf die Auswahlkriterien sagt Kühnert: "Vor allem soll es ein guter Minister sein, der dieser Aufgabe gewachsen ist." Dass es nun keine Parität im Kabinett gebe, "tut uns weh".

Für Anna Sauerbrey hätte Scholz schon früher handeln sollen: "Die Zeit drängt, vor allem drängt sie für die Ukraine und damit letztlich auch für die Länder, die die Ukraine unterstützen", erklärt Sauerbrey und kritisiert mit Blick auf die Neuorganisation im Verteidigungsministerium, der Bundeswehr oder auf die finanzielle Ausstattung: "Ein Jahr ist jetzt von dieser Legislaturperiode schon ins Land gegangen, ohne dass die wesentlichen Punkte angefasst worden sind."

In Bezug auf Christine Lambrecht sei bei aller Kritik übersehen worden, dass bei einigen Punkten das Kanzleramt und nicht die Ministerin gefragt gewesen sei. So habe man lediglich immer wiederholt, die Ukraine dürfe nicht verlieren, aber nie konkretisiert, was das genau bedeute, zum Beispiel in Bezug auf Waffenlieferungen. Denn am Ziel messe sich, was Deutschland liefern soll, so Sauerbrey.

Was die Aufgaben des neuen Verteidigungsministers anbelangt, hat Carlo Masala klare Vorstellungen: "Wenn unter diesem Verteidigungsminister in den nächsten drei Jahren, die ihm noch bleiben, nicht die entscheidenden Weichen gestellt werden, dann sieht es für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr sehr, sehr schlecht aus."

So langsam bahnt sich die Runde ihren Weg zu den viel diskutierten Leopard-2-Panzern und der weiteren Unterstützung der Ukraine. Hier sagt Thomas Kleine-Brockhoff: "Ich glaube, dass wir morgen in Ramstein in einen wesentlichen Wendepunkt geraten. Wenn das morgen schief geht, dann haben wir einen Scherbenhaufen in der Allianz. Putin wird sich die Hände reiben." Für Deutschland gehe es bei der Konferenz am Freitag um drei Dinge: Die Befähigung der Ukraine zu einer Frühjahrsoffensive, um die Zukunft der deutschen Rüstungsindustrie und um die Verlässlichkeit der deutschen Außenpolitik.

Der Tacheles-Talk des Abends

Oberst André Wüstner ist aus Erfurt zugeschaltet und redet von Anfang an ganz unverblümt. Auf die Frage, ob er als Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes denn die Leopard-Panzer der Bundeswehr hergeben würde, antwortet Wüstner: "Aus dem Blickwinkel des Deutschen Bundeswehrverbandes auf keinen Fall." Anders als Kleine-Brockhoff sieht Wüstner beim Ramstein-Treffen auch keinen potentiellen Scherbenhaufen, es werde weitere solcher Formate geben: "Denn dieser Krieg wird im Sommer noch nicht vorbei sein. Man wird weiterhin koordinieren müssen, was man weiterführend liefert." Dennoch werde man irgendwann über die Schwelle Leopard gehen müssen.

In Bezug auf die Ausstattung der Bundeswehr sieht Wüstner insbesondere bei den Panzerbataillonen Lücken. Man müsse zwar die Ukraine unterstützen, habe aber zudem noch weitere Verpflichtungen, etwa bei der Nato oder in Auslandseinsätzen. "Wir sind mehr oder weniger nackt. Die Lage in der Bundeswehr ist prekär, sie ist so schwierig wie noch nie zuvor." Deshalb müsse man sich auf die Industrie konzentrieren, die Rüstungskapazitäten hochfahren und dann im Verbund mit anderen Ländern Panzer liefern. "Alles andere greift zu kurz", so Wüstner.

Ein weiterer Kritikpunkt von Wüstner: Der Ersatz und die Produktion von Waffen, die an die Ukraine geliefert wurden. "Da ist Politik grundsätzlich noch zu langsam." Genauso sieht es Carlo Masala und macht einen grundsätzlichen Denkfehler aus: "Gehen wir auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, agiert dieses System, BMVg, Bundeswehr, Industrie, noch immer so, als ob wir am 23.2. wären. Wir agieren wie in Friedenszeiten. Wir sind aber in Krisenzeiten. Und wir haben keinerlei Strukturen, die beschleunigt für Krisenzeiten reagieren können." Diese schnellen Strukturen herzustellen, sei nun Aufgabe des neuen Verteidigungsministers.

André Wüstner formuliert die Situation noch einmal deutlicher: "Die Lage ist prekär. Wir sind bei einer Einsatzbereitschaftslage von 33, 40 Prozent, je nach Waffensystem. Aber der Punkt ist der: Es ist noch nicht verstanden worden, dass wir in eine Art Kriegswirtschaft müssen." Das bedeute nicht, dass Siemens nun anstelle von Kühlschränken Munition produzieren müsse, aber man müsse nun mit Blick auf die Industrie beschleunigen. Bei den LNG-Terminals habe es geklappt, das müsse nun auch bei der Industrie passieren.

Mit Blick auf die Mobilisierung in Russland und auf "all das Gerät, was jetzt kommt", warnt Wüstner: "Manche glauben, das ist im Mai, Juni oder Juli vorbei. Nein, das wird länger gehen und wir müssen endlich Gas geben!" Auch im europäischen Verband habe man kaum noch Munition und Ersatzteile, aber die "Politik hat teilweise den Schuss noch nicht gehört", so der Oberst.

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Die Warnungen des Abends

Bereits zu Beginn der Talkrunde fordert Serap Güler geopolitischen Weitblick: "Die Hauptfrage, auf die wir uns fokussieren müssen, auch morgen in Ramstein, ist die globale beziehungsweise die geopolitische Situation des Ganzen: Was passiert, wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnt?“

André Wüstner malt etwas später ebenfalls Zukunftsszenarien an die Wand. "Wir müssen nicht vom Ende her denken, wir müssen vom worst case aus denken. Und da rate ich jedem Abgeordneten, in den Bundesnachrichtendienst zu gehen und sich anzusehen, was da gerade passiert." Er wolle keine Angst machen, aber "damit alle mal den Schuss hören, was da gerade passiert, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass weiter mobilisiert wird, dass weiter mit Hochdruck in Russland Munition produziert wird, dass es in Abstimmung mit Belarus weitere Panzerlieferungen gibt."

Das Fazit

Kevin Kühnert verweist bei Illners Fragen nach Kanzler und Vizekanzler gerne und stets darauf, doch bitte die Betreffenden selbst zu fragen. Diese Reaktion Kühnerts ist nicht neu und in manchen Situationen auch berechtigt, in dieser Runde aber nicht hilfreich. Denn zum einen ist Kühnert nicht irgendein Brieffreund des Kanzlers, der Scholz nur einmal im Jahr schreibt. Insofern kann man vom SPD-Generalsekretär erwarten, dass er über die Absichten seines Parteigenossen Auskunft geben kann - wenn er denn möchte.

Zum anderen steht die Kommunikation aus dem Kanzleramt nicht erst seit heute in der Kritik, wie auch Carlo Masala an diesem Abend erklärt: „Deutschland liefert total viel. Das Problem ist nur, dass von Tag eins des Krieges die strategische Kommunikation dieser Regierung über die Frage, was liefert Deutschland, grottenschlecht ist.“

Immer wieder die Pflicht eines Kanzlers zur Abwägung ins Feld zu führen, wie Kühnert es macht, um dann bei der Frage nach den Gründen darauf zu verweisen, man möge doch bitte den Kanzler selbst fragen, ist für eine Talkshow nicht nur eine schlechte Strategie, sie trägt auch nicht dazu bei, die Kritik an der Kommunikationsqualität des Kanzleramtes zu verringern.

Umso besser, dass mit Masala, Kleine-Brockhoff und Wüstner drei Militär-Experten in der Runde saßen, die nicht auf parteiinterne Kommunikationsstrategien Rücksicht nehmen müssen - und es auch nicht taten. Was sie über den Zustand der Bundeswehr, das Beschaffungswesen, die Versäumnisse bei der Munitionsproduktion, aber vor allem in Bezug auf den worst case sagten, ist zwar nicht besonders beruhigend, aber immerhin ist es ausgesprochen.

Und so bekam eine Diskussion, die sich anfangs auf eine bereits entschiedene Personalie und eine erst nach der Sendung entschiedene Frage nach Panzerlieferungen zu verengen drohte, doch eine wichtige, weil umfassendere Sicht.

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