Wie geht es nach dem Brexit mit der Europäischen Union weiter, will Maybrit Illner von ihren Gästen wissen. Während Justizministerin Katarina Barley noch hofft, dass es so weit erst gar nicht kommt, weil ein zweites Referendum den Austritt Großbritanniens abwendet, fordert Historiker Andreas Rödder mehr Freiheit für die Mitgliedsstaaten. Der Ruf nach mehr Europa gefährde Europa.

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Was war das Thema?

Nach langem Gezerre um die Ausgestaltung des Brexits gibt es nun einen Vertrag. Sofern der Europäische Rat und das britische Parlament diesen absegnen, lassen sich Großbritannien und die Europäische Union im März gemäß der vereinbarten Modalitäten scheiden.

Welche Folgen der Brexit haben wird, ist aktuell schwer zu benennen. Einerseits ist er ein Symptom der Krise der Europäischen Union und könnte sie weiter verschärfen. Anderseits bietet er die große Chance für einen Neuanfang.

Soll die EU mehr Europa wagen oder muss sie ihren Mitgliedsstaaten größere Freiheiten gewähren? Wie wird die EU der 27 ohne das Mutterland des modernen Parlamentarismus aussehen? Maybrit Illner besprach diese und weitere Fragen unter dem Thema "Mit schlechtem Beispiel voran – zerbricht Europa am Brexit?" mit ihren Gästen.

Wer waren die Gäste?

Katarina Barley: Die Bundesjustizministerin (SPD) ist wegen ihrer teilbritischen Herkunft Stammgast in Brexit-Runden. Außerdem soll sie Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl werden.

Sie sprach von einem "recht gut verhandelten" Deal und zeigte Mitgefühl mit der britischen Premierministerin Theresa May. May müsse ausbaden, was ihr die Brexit-Befürworter Boris Johnson, Nigel Farage und James Cameron eingebrockt hätten.

Für die EU ist der Brexit aus Barleys Sicht "eine Operation am offenen Herzen" und ein Verlust, denn Europa verliere einen starken Alliierten in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

Anne McElvoy: Die britische Journalistin kritisierte die EU für ihre harte Haltung. Dadurch steigt in ihren Augen die Gefahr eines harten Brexits, der immer noch möglich ist, wenn der Deal scheitert. Für McElvoy ist klar: Theresa May weiß, dass es "jeden Tag auch schiefgehen" kann.

Andreas Rödder: Der Historiker plädierte für Gelassenheit: "Nur, weil die Briten aus der EU austreten, verschwinden die britischen Inseln nicht in den Tiefen des Atlantiks."

Auch nach dem Austritt könnten "konstruktive und kreative Beziehungen" geführt werden, so Rödder. Er lobte: Die EU habe den Briten mit dem Deal eine Perspektive für eine "kooperative Zukunft" geboten.

Lin Selle: Die Präsidentin des Vereins Europäische Bewegung Deutschland kritisierte die zumeist deutsche Perspektive beim Blick auf die Probleme Europas. Sie wies auf die Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent in manchen Regionen Italiens hin.

Eine EU, die solche Probleme nicht angeht, dürfe sich nicht darüber wundern, dass die Italiener nun eine Regierung aus zwei populistischen Parteien haben.

Edmund Stoiber: Der frühere bayerische Ministerpräsident bekannte er, dass er zwei politische Entscheidungen niemals erwartet hätte: "den Brexit und Trump". Mit Blick auf den Brexit ebenfalls überrascht habe ihn die "Konsequenz und Härte der Verhandler in Brüssel".

Trotz des Austritts müsse es weiter eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und dem Inselreich geben, etwa bei der Cyberkriminalität und der Bekämpfung des Terrorismus.

Besorgt zeigte sich der CSU-Ehrenvorsitzende angesichts der Schattenseiten der EU, wie der Abwanderung von Pflegekräften aus Rumänien.

Was war das Rededuell des Abends?

Stoiber wunderte sich, dass es in Italien keine Demonstrationen gegen die Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge gibt. "In Deutschland wird demonstriert", stellte Stoiber fest. Das missfiel Katarina Barley. "Italien ist 29 Jahre alleine gelassen worden. Dass Sie das jetzt nennen, ist wirklich ein zynisches Beispiel." Stoiber verteidigte sich halbherzig: "Das ist kein zynisches Beispiel."

Was war der Moment des Abends?

Das leidenschaftliche Plädoyer von Historiker Rödder, Brüssel müsse den Mitgliedsstaaten mehr Freiheiten lassen, um die Stabilität der EU zu sichern. "Vorwärts immer, rückwärts nimmer hat schon unter Erich Honecker nicht funktioniert", zog Rödder einen Vergleich zur DDR. Die Forderung nach "Mehr Europa!" würde Europa gar gefährden.

Wie hat sich Maybrit Illner geschlagen?

Die Gastgeberin hatte in einer weitgehend einmütigen Runde wenig zu tun und ging ihre Frageliste brav durch. Einmal bewies sie Witz, als ein einzelner Zuschauer einen Redebeitrag Edmund Stoibers akustisch belohnte. "Da gibt es einen einsamen Klatscher. So viel Zeit muss sein."

Was ist das Ergebnis?

Katarina Barley machte klar, dass sie die Briten schon jetzt vermisst und es in der EU der 27 schwieriger wird, die rechtsstaatlichen Grundregeln zu verteidigen.

Barley wünscht sich zur Europawahl 2019 kein "Europa der Egoisten". Sie wies zudem auf das große Gründungsversprechen hin. Europa sei "anstrengend, aber es sichert uns am Ende den Frieden."

Auch für Endmund Stoiber ist die Europawahl richtungsweisend. Die Abstimmung sei "die wichtigste überhaupt für die Zukunft Europas", weil es dort um die Frage geht: Wie wird das Europa der Zukunft aussehen? Sonderlich optimistisch sieht Stoiber die Gegenwart nicht. Die EU stehe wegen des Brexits und der autoritären Tendenzen in einigen Mitgliedsstaaten "politisch schlechter da als vor 20 Jahren".

Linn Selle wünschte sich Diskussionen in und um Europa, die nicht defensiv und rückwärtsgewandt daherkommen. In ihren Augen muss die Frage im Mittelpunkt stehen: "Wo wollen wir denn hin?" Das war eine Spitze gegen die deutsche Regierung, die auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bisher zögerlich reagiert hat.

Klar ist: Die EU wird sich ohne Großbritannien verändern und Großbritannien wird sich ohne die EU verändern. Ob positiv oder negativ, das ist für Historiker Andreas Rödder noch völlig offen. "Niemand weiß, was in 50 Jahren sein wird." Und niemand weiß, ob der Deal womöglich doch noch scheitert und vielleicht sogar ein zweites Referendum über den Brexit stattfinden wird. So zumindest die leise Hoffnung von Katarina Barley.

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