Die Fronten sind unverändert verhärtet, ein Frieden in weiter Ferne: Seit den Kämpfen um die Stadt Debalzewo ist unklarer denn je, wie es um den Friedensplan für die Ukraine steht. Ist das Minsker Abkommen gescheitert? Die Beteiligten sprechen bisher nur vom gebrochenen Waffenstillstand – doch gerade das sagt viel über die Interessen der Konfliktparteien: Wer steht wofür und warum?

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Manchmal hilft es in der Politik, sich an das zu halten, was nicht gesagt wird. In der Ukraine-Krise ist das ein ganz bestimmtes Detail: Kein führender Politiker hat bisher davon gesprochen, dass Minsk II gescheitert sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef François Hollande prangerten zusammen mit Russlands Präsident Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko lediglich den "Bruch der Waffenruhe" in der Ost-Ukraine an.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert hatte es schon am Mittwoch angedeutet: Die Frage, ob der Minsker Friedensplan gescheitert ist, sei "weder mit einem klaren Ja noch einem klaren Nein zu beantworten." Die beteiligten Spitzenpolitiker fordern weiterhin, dass alle Punkte von Minsk "streng" umgesetzt werden müssen. Auch ohne große Erklärungen wird damit eine Botschaft deutlich: Sie wollen nicht, dass die Mühen umsonst waren.

Allerdings werfen die jüngsten Kämpfe drängender denn je die Frage auf, ob der Friedensplan überhaupt noch umsetzbar ist. Dass die Lage im Ukraine-Konflikt derart unübersichtlich ist, hat viel mit den verschiedenen Interessen zu tun. Denn mit Europa, den USA, der Ukraine, Russland und den Separatisten ist die Liste der Akteure lang. Doch wer steht für welche Positionen und wer verfolgt welche Ziele?

Europa: Es gibt keine Alternative zu Minsk

Wenn vor Europas Grenzen Krieg herrscht, kann niemand wegsehen – schon gar nicht Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande. Aber die Krise im Osten des Kontinents ist für sie zum Dilemma geworden: Sie können kaum von Minsk II abrücken. Denn scheitert der Friedensplan, wären auch die Staatschefs gescheitert.

"Es gibt kein Vermittlerpaar, das Merkel und Hollande noch toppen könnte", sagt Wolfgang Zellner vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg. Wenn ihre Vermittlungsbemühungen ins Leere laufen, ist der Friede wohl unerreichbar.

Aus diesen Gründen wird derzeit nur von einer gebrochenen Waffenruhe und nicht einem erfolglosen Friedensplan gesprochen – auch wenn er das auf dem Papier eigentlich ist. Stattdessen dürfte nun der bekannte Ablauf folgen: neue Telefonate, Gespräche und weitere Treffen. Natürlich immer vorausgesetzt, es kommt zu keinen weiteren Kampfhandlungen.

Prognose: Das Vermittlerpaar Merkel und Hollande wird an einer gemäßigten Politik festhalten. Das bedeutet: keine Waffenlieferungen an die Ukraine, Festhalten an den Sanktionen gegen Russland - aber vor allem weitere Verhandlungen und Gespräche mit Putin und Poroschenko. In Europa ist man noch lange nicht bereit, die Hoffnung auf eine doch noch friedliche Lösung aufzugeben.

Russland: Wladimir Putin braucht ein Angebot des Westens

Die aktuelle Situation spielt Wladimir Putin in die Karten. "Russland möchte die Situation in der Ost-Ukraine in einen sogenannten "Frozen Conflict" rutschen lassen, um so seinen ständigen Einfluss zu sichern", erklärt Klaus Segbers, Professor für Osteuropa-Studien an der Freien Universität Berlin.

Bei einem eingefrorenen Konflikt ruhen zwar die Waffen, doch die eigentliche Ursache ist nicht beseitigt – der Konflikt könnte also jederzeit wieder auftauen und neue Kämpfe ausbrechen. Wer nach einem ähnlichen Beispiel sucht, muss nur nach Georgien schauen, wo die Regionen Südossetien und Abchasien nach dem Kaukasuskrieg 2008 mit russischer Hilfe ihre Unabhängigkeit erklärten.

Und wie schon der Krieg in Georgien, hat auch der aktuelle Fall viel mit der russischen Wahrnehmung zu tun. "In der Ukraine verbinden sich aus russischer Sicht außen- und innenpolitische Bedrohungen idealtypisch", sagt Zellner. Auf der einen Seite ist da die Nato, die nach mehreren Osterweiterungen immer näher an Moskau heranrückte. Zugleich fürchtete der Kreml innenpolitische Folgen: "Die Maidan-Revolution war eine riesige Herausforderung, weil die Bürger im Nachbarland plötzlich Demokratie verlangten."

Dass sowohl weitere Sanktionen gegen Russland als auch westliche Waffenlieferungen den Konflikt nur anheizen, scheint mittlerweile klar. Höchste Zeit also, dass sich der Westen - auch die USA - auf Moskau zubewegen. Die Lösung des Problems kann also nur in Verhandlungen mit Putin erarbeitet werden. Auch Altkanzler Kohl appelliert in seinem jüngst erschienenen Buch "Aus Sorge um Europa": "Für eine stabile europäische Sicherheitsordnung ist die Einbeziehung Russlands notwendig; denn Russland war immer der größte Nachbar und wird dies auch im 21. Jahrhundert sein. Ein gutes Verhältnis zwischen Russland und der Europäischen Union und auch der Nato liegt in unserem Interesse."

Prognose: Die Ukraine-Krise kann nur gemeinsam mit Russland gelöst werden. Daher wird es notwendig sein, Putin nicht länger zu isolieren, sondern ihn ins Boot zu holen. Der russische Präsident wird sich allerdings etwas bitten lassen - das Angebot der Europäischen Union muss verlockend sein.

Separatisten: nur Moskau kann sie stoppen

Die Separatisten liefern sich seit Monaten erbitterte Kämpfe mit der ukrainischen Armee. Bereits im vergangenen Jahr haben sie die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausgerufen. Mit der Eroberung von Debalzewo haben sie die seit Minsk II geltende fragile Waffenruhe gebrochen. Das zeigt: Sie sind entschlossen, bedingungslos für ihre Ziele zu kämpfen.

Doch was sind ihre Ziele? "Die Separatisten haben ihre militärischen und politischen Ziele öffentlich formuliert: Das militärische Ziel besteht darin, den gesamten Donbass zu erobern. Das politische Ziel besteht darin, eine andere Ukraine zu schaffen", sagte Prof. Gerhard Simon, Osteuropa-Experte der Universität Köln, im ARD-"Nachtmagazin". Heißt: Die Separatisten wollen eine komplette Neuordnung der politischen Machtverhältnisse in der Ukraine.

Unabhängig davon dringen nur wenige Informationen über die prorussischen Separatisten nach außen. Zahlreiche Gerüchte ranken sich um die Kämpfer im Osten der Ukraine. So zum Beispiel, dass nur jeder achte Separatist ukrainischer Staatsbürger ist. Oder dass die meisten Bataillone weitgehend autonom agieren und sich nicht an Weisungen von oben gebunden fühlen. Und weiter: Den Truppen gehören offenbar Kämpfer ehemaliger Spezialeinheiten aus Russland an, also top ausgebildete Veteranen.

Offensichtlich ist nur, dass die Rebellen von Moskau abhängig sind. Und darin liegt die große Hoffnung: Ist Putin zufrieden, werden auch die Separatisten die Kämpfe einstellen. Findet der Westen mit Moskau eine diplomatische Lösung, fällt für die Separatisten die so wichtige russische Unterstützung weg. Obwohl sie im Zentrum des Geschehens sind, scheinen ihre Ziele einen sehr geringen Einfluss auf die nähere Zukunft zu haben. Zu groß ist die Abhängigkeit von Moskau.

Prognose: Bröckelt die Unterstützung aus Moskau, schwindet die Macht der Separatisten im Osten. Denn die Anführer der prorussischen Kämpfer werden letztlich von Moskau gelenkt. Davor werden die Separatisten allerdings nicht klein beigeben.

Ukraine: Poroschenko muss auf Merkel und Hollande hoffen

Der ukrainische Präsident ist angezählt: Demokratisch gewählt, muss er auf Volk und Parlament achten; Nationalisten sitzen ihm zusätzlich im Nacken. Gegen Poroschenko formiert sich eine starke Opposition. Allein deshalb ist es ihm schwer möglich, öffentlich einen Strich zu ziehen und Teile des Landes – wenn auch vielleicht nur vorläufig – für verloren zu erklären.

Hinzu kommt, dass die Umstände für den Staatschef kaum schwieriger sein könnten: Ein Beitritt zu Nato oder EU ist nahezu ausgeschlossen. Ohne Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) droht Kiew der Staatsbankrott. Außerdem wandern immer mehr Facharbeiter aus. "Poroschenko hält ein schlechtes Blatt in der Hand", sagt Osteuropa-Experte Segbers.

Und deshalb bleiben dem Präsidenten auch nicht mehr viele Optionen. Gibt er die Ostukraine auf, wird er innerhalb weniger Tage sein Amt verlieren. Sollte Poroschenko weiter am Minsker Friedensabkommen festhalten, muss er so tun, als hätte die Eroberung Debalzewos durch die Separatisten nie stattgefunden. Auch das kann ihm als Zeichen der Schwäche ausgelegt werden. Handlungsfähigkeit kann Poroschenko im Grunde nur noch beweisen, wenn er das Kriegsrecht verhängt - die Ultima Ratio in einem Konflikt, der dann völlig unkontrollierbar wird. Ein letzter Ausweg ist die Forderung Poroschenkos nach einer EU-Polizeimission mit UN-Mandat. Doch das wurde bereits von Teilen der EU abgelehnt. Und selbst wenn die Idee Gehör fände – ihre Umsetzung würde dauern.

Prognose: Poroschenko hat kaum eine Chance unbeschadet aus der Krise zu hervorzugehen. Dass er das Kriegsrecht verhängt, ist höchst unwahrscheinlich. Die Ukraine würde nach dieser Entscheidung noch mehr Argumente für Putins Eingreifen in den Konflikt liefern. Dem ukrainischen Präsidenten bleibt nicht viel mehr übrig, als auf die Vermittler Merkel und Hollande zu setzen.

USA: Osteuropa nicht mehr oberste Priorität

Die ernüchternde Perspektive Poroschenkos erklärt auch, warum Kiew immer wieder Waffenlieferungen von den USA fordert. Aber Washington ziert sich. Marco Overhaus von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hat eine Erklärung dafür: "Für die USA ist der Ukraine-Konflikt einer von vielen Brandherden, aber nicht der wichtigste."

Die USA übernehmen nur noch dort die Führung, wo ihre Kerninteressen berührt sind – und dazu zählt Osteuropa nach dem Kalten Krieg nicht mehr. "In Washington wird die Verantwortung bei Deutschland und Europa gesehen", sagt Overhaus. Die US-Regierung konzentriere sich stattdessen eher auf den Nahen Osten und den Irak.

Prognose: Präsident Barack Obama setzt sein Vertrauen vor allem in Angela Merkel. Ihr traut er im Gespann mit Hollande zu, den Konflikt zu lösen. Dass die Republikaner fordern, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, ist nicht mehr als ein Versuch der Opposition, die Entscheidungen des US-Präsidenten zu torpedieren. Doch solange die Chance auf einen Frieden besteht, wird Obama der Forderung nicht nachgeben.

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