• Der Kreml hat versucht, Europa im Ukraine-Krieg mit Energielieferungen unter Druck zu setzen.
  • Bislang hat sich Europa davon nicht beeindrucken lassen und wird zunehmend unabhängiger von Russland.
  • Hat sich Wladimir Putin verrechnet?

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Kein Jahr ist es her, dass Dmitri Medwedew, russischer Ex-Präsident und einer der extremen Scharfmacher der Putin-Regierung, auf Twitter frohlockte: "Herzlich willkommen in der schönen neuen Welt, in der die Europäer bald 2000 Euro pro 1000 Kubikmeter Gas zahlen.“

In seinen Zeilen formulierte Medwedew spöttisch jene Strategie für Europa, mit der der Kreml den Krieg gegen die Ukraine flankieren wollte: Die Energiepreise sollten durch eine Verknappung der Erdgaslieferungen in die Höhe steigen, die europäische Wirtschaft würde in eine Rezession getrieben werden. Nach einem kalten Winter mit Preisexplosionen an den Strom- und Gasmärkten, steigender Arbeitslosigkeit und Protesten wäre der Druck auf Europas Regierungen groß geworden, wieder im Kreml anzuklopfen.

Heute lässt sich vorsichtig sagen: Zu früh gefreut. Schaut man auf die ökonomischen Kennziffern der vergangenen Monate, so leidet vor allem Russland unter dem Energiekrieg mit Europa. Zwar sanken die russischen Gasexporte, die bis Kriegsanfang noch etwa die Hälfte der europäischen Importe ausmachten, zuletzt auf einen postsowjetischen Tiefstand.

Doch zu einem ausgeprägten Energienotstand kam es aufgrund voller Gasspeicher, einem milden Winter und dem Fortschritt europäischer Regierungen, russische Gaslieferungen über LNG-Gas aus Nahost und Pipeline-Gas aus Skandinavien zu ersetzen, trotzdem nicht. Anfang der Woche prognostizierte die EU-Kommission gar, Europa könnte die lange für sicher gehaltene Rezession in diesem Jahr sogar vermeiden und führte dies unter anderem auf den Preisrückgang an den Energiemärkten zurück.

Russland könnte in eine langanhaltende Rezession schlittern

In Russland stellt sich die ökonomische Lage anders dar. Mit einem Rückgang von knapp drei Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr nur in wenigen Ländern stärker geschrumpft als dort - und die Rezession könnte länger anhalten. Heli Simola, Senior Economist am Institute for Emerging Economies der Bank of Finland, meint in einem Artikel für das 'World Economic Forum' (WEF), die russische Wirtschaft sei zwar nicht mit einem plötzlichen Einbruch, aber mit einer langen, schmerzhaften Rezession konfrontiert. Sie verweist auf Prognosen, die in den beiden Jahren 2022 und 2023 einen Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts um insgesamt 7 bis 8 Prozent erwarten lassen.

Ökonomisch spricht also vieles dafür, dass Putins Rechnung, die Europäer mit Energielieferungen unter Druck zu setzen, bislang nicht aufgeht. Michael Rochlitz, Professor für Volkswirtschaftslehre und Experte für die russische Wirtschaft, führt dies unter anderem darauf zurück, dass die Ablösung von russischen Energielieferungen in vielen europäischen Staaten schneller gelungen ist, als im Kreml erwartet wurde.

"Wladimir Putin hat sehr wahrscheinlich nicht mit den konzertierten und entschlossenen ökonomischen Sanktionen des Westens gerechnet", so Rochlitz. "Und er hat die Bereitschaft der Europäer unterschätzt, sich diesmal langfristig von russischem Öl und Gas unabhängig zu machen."

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Dazu kommt auch ein wenig Fortune: Europa erlebt gerade einen der wärmsten Winter seit Jahrzehnten. Wie das Wirtschaftsportal 'Bloomberg' berichtet, könnte die Energienachfrage aufgrund der höheren Temperaturen rund 13 Prozent unter dem 30-jährigen Durchschnitt liegen. Dies habe es den europäischen Ländern ermöglicht, die Energiespeicherung auf 83 Prozent der Kapazität auszubauen, also rund 30 Prozentpunkte über dem Niveau von 2021.

Sinkende Gaspreise belasten russischen Staatshaushalt

Die Preisreduktion ist für Russland deshalb ein Problem, weil das Land die gesunkene Menge an verkauftem Pipeline-Gas vorerst nicht mehr durch steigende Gaspreise ausgleichen kann. "Russland konnte im Sommer 2022 die gesunkene Menge von verkauftem Gas durch die stark angestiegenen Gaspreise kompensieren und nahm unter dem Strich etwa gleich viel ein wie im Sommer 2021", erklärt Ulrich Schmid, Osteuropa-Experte an der Universität St. Gallen. "Mittlerweile sind die Gaslieferungen an Europa aber unter ein kritisches Niveau gesunken und auch die Preise sind wieder gefallen."

Für Russland, dessen Wirtschaft fast völlig vom Export von Energieträgern abhängt, ist diese Lage fatal: Abgesehen von der Ausfuhr von Öl, Gas und weiteren Rohstoffen produziert das Land nur wenige Güter, die auf den internationalen Märkten gefragt sind. Dazu kommen große Einschränkungen in der Produktion, weil Verbote westlicher Staaten, Bauteile und Hochtechnologiegüter einzuführen, durch chinesische Produkte bislang unzureichend substituiert werden. "In den nächsten Jahren wird sich das krisengeschüttelte Energiegeschäft deshalb schmerzhaft auf den russischen Staatshaushalt auswirken", sagt Schmid.

Russland findet keine ausreichend große Zahl von Gas-Abnehmern außerhalb Europas

Russland bräuchte für seine Energielieferungen deshalb dringend Abnehmer außerhalb Europas. Immer wieder hat Putin in den vergangenen Monaten Chinas Staatschefs Xi Jinping umgarnt und die Gas-Ausfuhren in das Land zuletzt sogar erhöht. Dass China jenes Loch stopfen will, das die ausbleibende Energienachfrage in den russischen Staatshaushalt reißt, zeigt sich bislang aber nicht.

"Russland versucht, unter anderem in China und Indien neue Energiemärkte zu erschließen", so Russland-Experte Michael Rochlitz. "Dies ist aber ein langfristiger Prozess, da der Bau neuer Gaspipelines viele Jahre in Anspruch nehmen kann." So haben Russland und China weit vor dem Krieg mehrere Pipeline-Projekte vereinbart, darunter den Bau einer Leitung von Westsibirien übe die Mongolei nach China. Mit dem Bau von "Sila Sibiri 2" wird jedoch frühestens ab 2024 gerechnet, eine Fertigstellung ist nicht vor 2030 zu erwarten.

Dazu kommt, dass China weitgehend unabhängig von russischem Gas ist und deshalb mehr Macht über die Preisgestaltung hat als die EU. China könnte - anders als Europa - den Preis weitgehend diktieren. "In der Zwischenzeit fehlen Russland die Ressourcen, um seine Wirtschaft zu modernisieren und um den Krieg weiter mit gleicher Intensität zu führen", sagt Rochlitz. "Wirtschaftlich ist der Krieg für Russland eine Katastrophe, er nimmt dem Land auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, die wirtschaftliche Zukunft."

Bevölkerung zeigt bislang keinen Widerstand

Zwar spricht vieles dafür, dass Putin in seinem Energiepoker vorerst den Kürzeren zieht. Ob dies Einfluss auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine hat, ist jedoch längst nicht ausgemacht. Trotz der trüben ökonomischen Aussichten ist bislang kein bedeutender Widerstand in der russischen Bevölkerung gegen das Vorgehen der Regierung wahrnehmbar.

Eine Erklärung dafür ist, dass es der Kreml bislang erfolgreich schafft, mit teils unkonventionellen Methoden die Auswirkungen der Sanktionen auf Teile der russischen Bevölkerung zu begrenzen. So setzt der russische Haushalt für das Jahr 2023 nicht nur Prioritäten im Bereich des Militärs und der Sicherheitsapparate, sondern auch bei jenen Gruppen, die von staatlichen Einkommen abhängen: Beamte, Familien mit Kindern oder Rentner etwa.

Diese Alimente reißen wiederum große Löcher in den russischen Haushalt. Allein im vergangenen Jahr summierte sich das Defizit auf 3,3 Billionen Rubel (rund 44 Milliarden Euro), also rund 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, das mit der Einführung immer neuer Abgaben und Steuern zumindest begrenzt werden soll. Im Gespräch ist etwa die Einführung einer Sonderabgabe auf Fracht, die von der russischen Staatsbahn transportiert wird. Und Russen, die sich im Zuge des Krieges gegen die Ukraine ins Ausland abgesetzt haben, sollen künftig höhere Steuern zahlen.

Auch die Wirtschaft begehrt nicht auf

Obwohl viele dieser Versuche, das russische Staatsdefizit zu begrenzen, die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft treffen, ist von dieser Seite vorerst keine Gegenwehr zu erwarten.

"Auch enorm große Verluste haben bislang nicht dazu geführt, dass sich russische Großunternehmer zusammentun, um auf Putin einzuwirken, den Krieg zu beenden", erklärt Fabian Burkhardt, Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und Experte für russische Institutionen.

Großunternehmer seien derzeit vor allem damit beschäftigt, ihre Aktiva umzustrukturieren oder bei der Regierung um Subventionen zu lobbyieren. Andere wiederum versuchten, die Lücken zu füllen und Anteile zu übernehmen, die nach dem Abzug von westlichen Unternehmen entstanden sind. Und so bietet der Krieg paradoxerweise für manche Eliteakteure auch neue Chancen: "All dies führt dazu, dass es auch im Jahr 2023 wenig wahrscheinlich bleibt, dass sich diese Tycoons zusammenschließen und Putin dazu drängen, Kompromisse mit der Ukraine einzugehen."

Über die Experten:
Michael Rochlitz ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Institutioneller Wandel im Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Universität Bremen. Er forscht zu autoritären Wirtschaftssystemen in Russland und China und hat fünf Jahre an der Higher School of Economics in Moskau gelehrt.
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen (Schweiz). Der Fokus seiner Forschung liegt auf Politik und Medien in Russland und Nationalismus in Osteuropa. Der Slawist ist Autor zahlreicher Bücher.
Fabian Burkhardt ist vergleichender Politikwissenschaftler am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung. Sein Forschungsinteresse sind politische Institutionen in autoritären Regimen mit regionalem Schwerpunkt auf postsowjetische Länder, insbesondere Russland, Belarus und Ukraine. Seit Juli 2020 ist er Redakteur der Russland- und Ukraine-Analysen.

Verwendete Quellen:

  • bloomberg.com: "Europe’s Spring Weather Is Putin’s Winter of Discontent"
  • Europäischer Rat: "Auswirkungen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft"
  • weforum.org: "What effects have sanctions had on the Russian economy?"
  • eex.com: "Aktuelle Erdgasdaten"
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