Die Ukraine gerät im Verteidigungskrieg gegen Russland massiv unter Druck. Die EU-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) pocht darauf, dem Land den Einsatz von Waffen mit großer Reichweite zu erlauben und sie erwartet mehr Einigkeit von der Koalition in Berlin.

Ein Interview

Im Osten des Landes sei "die Front zusammengebrochen", sagte ein ukrainischer Generalmajor in dieser Woche. Es mangelt der Armee dort an Munition und zunehmen auch an Soldaten. Moskau dagegen besorgt sich Verstärkung aus dem Ausland: Der Nato zufolge sind inzwischen rund 10.000 Soldaten aus Nordkorea in Russland stationiert.

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Droht die Ukraine den Krieg gegen Russland zu verlieren? Das müsse nicht geschehen, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europäischen Parlament, im Telefon-Interview unserer Redaktion. Eigentlich hat sie nur ein paar Minuten auf dem Weg zum nächsten Termin. Dann wird es doch ein längeres Gespräch.

Frau Strack-Zimmermann, Sie waren vor kurzem selbst wieder in der Ukraine. Wie ernst ist die Lage dort?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Wo auch immer Sie im Land sind: Dort ist jede Stunde Alarm, vor allem in der Nacht. Drohnen- und Raketeneinschläge haben dramatische Folgen. Auch in Kyjiw ist ein normales Leben schwer möglich. Und dennoch gibt es erstaunlich viele Menschen, die alles geben, um unbeirrt ihr Land zu verteidigen.

Der russische Präsident hat sich inzwischen aber die Unterstützung von Soldaten aus Nordkorea gesichert, das dürfte die Lage ebenfalls weiter zuspitzen.

Die nordkoreanischen Soldaten in Russland lösen natürlich Sorge aus. Wladimir Putin macht damit deutlich, dass er diesen territorialen Konflikt immer weiter ausweitet. Der Krieg in der Ukraine ist nämlich kein europäischer Nebenkriegsschauplatz, sondern hat inzwischen eine internationale Dimension. Putin zieht regelmäßig rote Linien, überschreitet diese aber ununterbrochen und eskaliert, auch um zu schauen, wie der Westen darauf reagiert. Ich frage mich, wer um Himmels Willen glaubt eigentlich wirklich noch, dass Putin ernsthaft an Friedensgesprächen interessiert ist?

"Wenn Putin jetzt nordkoreanische Soldaten einkauft, beweist das, dass er Rekrutierungsprobleme hat."

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Dem Westen fehlen für eine starke Gegenwehr offenbar die Kraft und die Einigkeit, vielleicht auch der Wille. Sind Friedensverhandlungen nicht der einzige Ausweg?

In Kyjiw beobachtet man mit großer Sorge, dass einige westliche Partner – auch Deutschland – versuchen, an der Ukraine vorbei mit Putin ins Gespräch zu kommen. Friedensbemühungen sind selbstredend begrüßenswert, sie dürfen aber nicht ansatzweise an der Ukraine vorbei oder auf Kosten der Ukraine geführt werden.

Droht die Ukraine nicht gerade, den Verteidigungskrieg gegen Russland zu verlieren?

Die Ukraine muss diesen Krieg nicht verlieren. Wenn Putin jetzt nordkoreanische Soldaten einkauft, beweist das, dass er Rekrutierungsprobleme hat. Es ist kein Geheimnis, dass täglich bis zu 1200 russische Soldaten sterben oder schwer verletzt werden. Putin schickt sie ins Feuer. Jetzt greift er auf Nordkorea zurück, auch weil eine massenhafte Rekrutierung in Russland irgendwann eben doch die Menschen im Land mental erreichen könnte.

Was müsste passieren, damit die Ukraine das Blatt wenden kann?

Es gibt unterschiedliche Szenarien: Wir helfen nicht weiter konsequent und deutlich genug – und die Ukraine ist verloren. Das bedeutet, dass wir nach 80 Jahren Frieden in Europa sehenden Auges zugelassen haben, wie ein Land in Europa völkerrechtswidrig von Russland einkassiert wurde. Damit beugen wir uns einem Verbrecher, und das verändert auch unser Leben und das unserer Kinder in Zukunft dramatisch. Oder aber die Nato und weitere demokratische Verbündete schicken eigene Soldaten in die Ukraine, so wie es Russland ja gerade mit Nordkorea exerziert. Das will keiner wirklich – auch ich nicht.

Was wollen Sie dann?

Die Ukraine muss endlich mit Waffen beliefert werden, um weit hinter der Front auf russischem Gebiet militärische Ziele zerstören zu können. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, russische Munitionslager und Abschussrampen für Drohnen, Raketen und Marschflugkörper auszuschalten, von denen jeden Tag Hunderte auf zivile Ziele in der Ukraine eingesetzt werden. Nur so kann sie die Angriffe abwehren. Dann haben auch die russischen Bodentruppen dort keine Chance mehr. So kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen beziehungsweise in Friedensgespräche eintreten, denn nur aus dieser Stärke heraus kann es einen gerechten Frieden geben.

Da sind der deutsche Bundeskanzler und andere Regierungschefs aber kategorisch: Die Freigabe von Waffen mit großer Reichweite wird es nicht geben. Es ist doch ein vergeblicher Kampf, immer weiter darauf zu beharren.

Ich werde – wie viele andere meiner Kolleginnen und Kollegen – nicht nachlassen, das immer wieder zu fordern. Alle Fachleute bestätigt Ihnen das: Es ist Teil der Nato-Doktrin, mit entsprechenden Waffen aus der Ferne zu wirken, um den Angreifer auf Distanz zu halten beziehungsweise abzuwehren, auch um so wenige Soldaten wie möglich in den Kampf zu schicken. Was macht Putin? Er opfert Hunderttausende seiner eigenen Landsleute. Wo sind da eigentlich die kritischen Stimmen der Wagenknecht-Jünger?

"Wer will heute ausschließen, dass China nordkoreanische Soldaten einkauft, um Taiwan zu annektieren? Das sind Realitäten, die auch ein Präsident Trump wahrnehmen wird."

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Richtig bedrohlich könnte es für die Ukraine aber werden, wenn in den USA Donald Trump in der kommenden Woche die Präsidentschaftswahl gewinnt. Denn Trump wird die Ukraine wohl kaum so stark unterstützen, wie es Joe Biden bisher gemacht hat.

Ich verrate kein Geheimnis: Ich hoffe, dass Kamala Harris die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten wird. Noch ist das Rennen offen und ich möchte heute nicht spekulieren. Eines ist aber sicher: Auch wenn Harris die Wahl gewinnt, wird sie deutlich mehr Verantwortung von der Europäischen Union einfordern. Das weiß Europa bereits seit Barack Obama. Wer auch immer die Wahl gewinnt, nach dem 5. November 2024 ist europäischer Zahltag.

Und wenn Trump gewinnt?

Da kann ich nur spekulieren. Auch wenn Trump immer darüber spricht, sich mit Putin „unter Freunden” an einen Tisch setzen zu wollen, wird er schnell merken, wie groß dieser Konflikt wirklich ist. Die Amerikaner schauen ganz genau darauf, was im Indopazifik passiert. Wenn nordkoreanische Soldaten in Europa kämpfen, berührt das auch die Sicherheit der US-Verbündeten Südkorea und Japan und ebenso Taiwan. Denn China wird auch in diesem Fall genau hinschauen, wie resilient die westliche Welt auf den Einsatz nordkoreanischer Soldaten auf europäischen Boden reagiert. Wer will heute ausschließen, dass China nordkoreanische Soldaten einkauft, um Taiwan zu annektieren? Das sind Realitäten, die auch ein Präsident Trump wahrnehmen wird.

Das klingt allerdings reichlich bedrohlich.

Die sicherheitspolitische Lage ist wirklich sehr ernst. Die Erde ist eine Kugel, und so wie der Virus nur 24 Stunden gebraucht hat, um den Globus zu erreichen, nimmt der Druck auf die Demokratien weltweit zu. Die Demokratien sind aber stärker. Demokratische Staaten wollen keinen Krieg und werden auch nie einen Krieg beginnen. Sie müssen jetzt aber lernen, dass sie auf dieses brutale kriegerische Vorgehen Russlands reagieren und sich zur Wehr setzen müssen, wenn wir auch in den kommenden 80 Jahren in Frieden und Freiheit leben wollen.

Die Spitzen der Ampelkoalition scheinen darüber gerade nicht so viel nachzudenken. Sie wirken derzeit nur noch mit sich und ihren Reibereien beschäftigt – oder schon mit dem nächsten Bundestagswahlkampf.

Ich bedauere sehr, dass dies so weit gekommen ist. Ich habe mir von der Zusammenarbeit in der Ampel sehr viel versprochen. Auch und besonders gesellschaftspolitisch hat die Ampel eine Menge erreicht. Die Erde dreht sich aber weiter, ob es Streit in der Bundesregierung gibt oder nicht. Keiner auf dieser Welt wartet, bis sich in Berlin wieder alle lieb haben. Wir werden schlichtweg mit einer Realität konfrontiert, und dabei geht es um etwas ganz Elementares: Wie wird die kommende Friedensordnung in der Welt aussehen? Und dabei blicken viele Nationen auf Deutschland, auch wenn das manche in Berlin im Eifer der politischen Auseinandersetzung ausblenden. Angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen wünschte ich mir deutlich mehr Einigkeit, sowohl innerhalb der regierungstragenden Parteien als auch mit einer verantwortungsvollen Opposition.

Über die Gesprächspartnerin

  • Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist seit der Europawahl in diesem Jahr Mitglied des Europäischen Parlaments und dort Vorsitzende des Unterausschusses für Sicherheit und Verteidigung. Zuvor war die FDP-Politikerin seit 2017 Bundestagsabgeordnete und leitete dort ebenfalls den Verteidigungsausschuss. Sie wurde 1958 in Düsseldorf geboren, ist dreifache Mutter, Motorradfahrerin - und hat vor ihrer Politik-Karriere als Verlagsrepräsentantin für einen Jugendbuchverlag gearbeitet.
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