Erneut ist Molenbeek in Belgien nach dem Terror in Paris in den Fokus der Ermittlungen geraten. Der 95.000-Einwohner-Stadtteil in der Hauptstadtregion Brüssel gilt gar als Zentrum der westlichen Islamistenszene. Wie aber entstehen Terrorzellen und welche Konsequenzen haben die Erkenntnisse für Deutschland?

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Ein Gespräch mit dem Terrorexperten Florian Wätzel vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel.

Herr Wätzel, was verbindet die sogenannten Brennpunkte in Frankreich und Belgien, zu denen die Spuren bei den Ermittlungen nach Terroranschlägen immer wieder führen?

Florian Wätzel: Man kann schon gewisse Muster erkennen, aber es gibt auch immer wieder starke Abweichungen, die gegen eine solche Verallgemeinerung sprechen.

In Frankreich gibt es eine Vielzahl solcher Brennpunkte, vor allem in großen Städten, dort, wo es eine größere muslimische Bevölkerung gibt.

Das hängt auch damit zusammen, dass in Frankreich eine starke Ghettoisierung stattfindet, bestimmte Bevölkerungsgruppen werden in die Banlieus abgedrängt. Eine solche Ausgrenzung führt wiederum zu sozialen Ungleichheiten. Das spielt auch in Molenbeek eine Rolle.

Trifft das auch auf Deutschland zu?

Nein, in Deutschland haben wir nicht die gleichen Ausmaße einer Ghettoisierung wie in Frankreich. Diejenigen, die nach Syrien ausreisen, kommen aus allen Landesteilen, selbst aus kleinen Städtchen in Norddeutschland, wo man das eigentlich nicht vermuten würde.

Viele stammen aus dem Ruhrgebiet, besonders aus der Umgebung von Dinslaken. Dort haben sich über Jahre Strukturen entwickelt, die so heute allerdings nicht mehr bestehen. Einige Syriengänger kommen aber beispielsweise auch aus Wolfsburg.

Das ist durchaus ungewöhnlich, weil es in Wolfsburg keine größeren sozialen Probleme gibt, die Arbeitslosigkeit geht gegen null, viele Menschen verdienen gutes Geld in der Automobilindustrie.

Es gibt also kein festes Muster, wo eine Terrorzelle besonders "fruchtbar" gedeihen kann?

Das Beispiel Wolfsburg spricht zumindest gegen das gerne verwendete soziale Armutsargument.

Welche Erklärung haben Sie denn für diese unterschiedlichen Umfelder?

In der Regel entsteht so etwas immer in Freundeskreisen. Es sind meist mehrere Leute, die sich gemeinsam radikalisieren. Dagegen ist es eher selten, dass sich jemand alleine extremem Gedankengut zuwendet oder sich über das Internet, etwa durch Videobotschaften des Islamischen Staates, radikalisiert.

In einer Solidargemeinschaft ist diese Entwicklung allerdings auch viel nachhaltiger. Das ist in Duisburg und Wolfsburg passiert.

Und so kann man auch erklären, dass Terrorzellen an Orten entstehen, von denen man es nicht erwartet hat. Teilweise ist es sehr banal, wie so etwas entsteht.

Was für Menschen sind das denn, die sich gemeinschaftlich zum Extremismus anstacheln?

Grundsätzlich gibt es keine typischen Dschihadisten. Die meisten sind jedoch heranwachsende junge Männer. Oft sind es Muslime der dritten Generation, die ein Identitätsproblem haben, sich in Deutschland nicht willkommen fühlen.

Das liegt oft daran, dass sie arbeitslos sind oder schlechte Jobs haben, wodurch sie sich benachteiligt fühlen.

Aufgrund dieser Enttäuschung entwickelt sich ein gewisser Drang zum Aktionismus. Andere Faktoren, die mit eine Rolle spielen können, sind beispielsweise Probleme im Elternhaus. Das ist allerdings durch die Forschung noch wenig belegt.

Welches Motiv haben diejenigen, die nach Syrien ausreisen?

Bei der ersten Welle der Syrienreisenden gab es viele, die aus einer Art Beschützerinstinkt handelten: Sie wollten ihren muslimischen Brüdern und Schwestern helfen, die vom Assad-Regime unterdrückt wurden.

Damals haben sich deshalb auch viele moderateren Rebellengruppen angeschlossen, nicht dem IS. Mittlerweile ist es fast ausschließlich der IS.

Woran liegt das?

Sie lassen sich von der Propaganda blenden, etwa, ein Kalifat mit aufzubauen. Wenn sie in Syrien angekommen sind, wollen einige jedoch wieder schnell zurück.

Sie sind oft erschrocken, aber auch enttäuscht, sobald sie das grausame Herrschaftssystem des IS kennenlernen. Das hat der Fall von Ibrahim B. in Wolfsburg sehr deutlich gemacht.

Wie lässt sich eine solche Radikalisierung denn überhaupt verhindern?

Es gibt bereits verschiedene Aussteigerprogramme und Betreuungsprogramme für Familien, deren Kinder ausgereist sind. Die Radikalisierungsprävention ist deshalb so schwierig, weil es kein einheitliches Muster gibt.

Zudem bekommt das Umfeld der Betroffenen diesen Radikalisierungsprozess oftmals gar nicht mit.

Die Warnsignale werden nicht erkannt oder missdeutet, das lässt sich vielleicht vergleichen mit Kindern, die drogensüchtig werden. Als Elternteil sucht man nach anderen Erklärungen, möchte nicht wahrhaben, was mit dem eigenen Kind passiert.

Generell sollten wir versuchen, junge Muslime stärker in die Mitte unserer Gesellschaft zu integrieren. Dabei können Sozialarbeiter, Lehrer, muslimische Gemeinden und Sportvereine eine wichtige Rolle spielen.

Bei den aktuellen Anschlägen in Paris wird vermutet, dass auch Syrienrückkehrer beteiligt waren. Wurde ihr Gefahrenpotenzial bisher unterschätzt?

Zunächst einmal ist es wichtig, die Attentäter von Paris zweifelsfrei zu identifizieren, um keine voreiligen Rückschlüsse zu ziehen. Denn bei einigen Anschlägen in der jüngsten Vergangenheit waren Attentäter beteiligt, die sich zuvor gar nicht in Syrien aufgehalten hatten.

Einige Dschihadisten haben sich ausschließlich zu Hause radikalisiert. Das Problem hängt also nicht ausschließlich mit den Syrienreisenden zusammen. Von ihnen geht jedoch eine größere potentielle Gefahr aus.

Wissenschaftliche Studien über islamistische Terroranschläge zeigen, dass Attentäter, die zuvor im Ausland Kampferfahrung sammeln, weitaus tödlichere Anschläge verüben. Die deutschen Sicherheitsbehörden haben dies längst erkannt und entsprechend reagiert.

So werden etwa für die deutschen Nachrichtendienste Hunderte neue Stellen geschaffen. Eine absolute Sicherheit wird es allerdings nie geben können.

Die jüngsten Anschläge in Paris zeigten das deutlich. Bereits nach dem vorherigen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo wurde in Frankreich die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen.

Es wurden weitreichende Antiterrorgesetze verabschiedet und das Militär wurde zur Unterstützung der Polizei auf die Straßen geschickt. Trotz alledem konnten die Terroristen am Freitagabend erneut zuschlagen.

Müssen wir uns deshalb Sorgen machen?

Ich persönlich habe Sorge, dass es zu weiteren Anschlägen wie in Paris kommt. Zudem befürchte ich, dass die Anschläge von Demagogen als Vorwand missbraucht werden, um gegen Muslime und Flüchtlinge zu hetzen.

Die steigende Zahl von Übergriffen gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland zeigt, dass die Terrorismusgefahr nicht allein von Dschihadisten, sondern zunehmend auch von Rechtsradikalen ausgeht.

Staat und Gesellschaft müssen dabei entschlossen beiden Gruppen entgegentreten und verhindern, dass Dschihadisten und Rechtsradikale voneinander profitieren. Vor allem ist es jetzt aber wichtig, keine unüberlegten Schlüsse zu ziehen.

Die Äußerung des französischen Präsidenten François Hollandes, die Anschläge als "kriegerischen Akt" zu bezeichnen, halte ich zum Beispiel für sehr ungeschickt. Denn damit wird den Terroranschlägen eine noch größere Bedeutung zugemessen.

Die Terroristen selbst werden damit aufgewertet. Dadurch wird den Terroristen in die Hände gespielt, die größtmögliche Aufmerksamkeit suchen und Panik verbreiten wollen.

Florian Wätzel ist Doktorand und Mitarbeiter am Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel. Seine Forschung konzentriert sich auf dschihadistische Gruppierungen in Syrien und dem Irak.


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