Der Wahlkampf steuert auf seinen Höhepunkt zu. Und noch immer sind viele Menschen unentschlossen, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollen. Kleinparteien wittern ihre Chance. Kann das klappen?
Die Zeiten, in denen die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD 40 Prozent und mehr bei Wahlen eingefahren haben, sind wohl vorbei. Die Union hält sich aktuell bei rund 30 Prozent in den Umfragen, die Sozialdemokraten weit abgeschlagen bei 15 Prozent bis 17 Prozent. Ähnlich wie die Grünen. Die Regierungspartner liegen in den Umfragen hinter der AfD.
"Grundsätzlich kann man festhalten, dass die Parteibindung abgenommen hat – gerade bei jungen Menschen", sagt die Politikwissenschaftlerin Heinrike Rustenbeck von der Technischen Universität Chemnitz. Die Gesellschaft habe sich gewandelt und die Lebensstile hätten sich pluralisiert, sagt Rustenbeck. Durch diese Individualisierung hätten sich auch die politischen Einstellungen ausdifferenziert.
Große Parteien könnten deshalb nicht mehr so einfach breite Schichten abbilden – stattdessen hätten immer mehr kleinere Parteien ihren Weg ins Parteienspektrum gefunden. Durch die Veränderungen von Gesellschaft und geopolitischer Lage hat sich das Parteienspektrum stetig erweitert. Aus den ehemals drei Parteien im Bundestag – Union, SPD und FDP – sind mittlerweile sieben geworden.
Parteienvielfalt im Bundestag könnte künftig wieder abnehmen
Gleichzeitig wissen wenige Wochen vor der Wahl noch immer knapp ein Drittel der Wahlberechtigten nicht, wen sie überhaupt wählen sollen. Die Gründe dafür dürften vielfältig sein: Ex-Ampel-Frust oder Unverständnis gegenüber dem strengen Migrationskurs der Union, die im Bundestag für die Umsetzung des selbigen auch auf die Stimmen der AfD gesetzt hat.
Dazu kommt die Wirtschaftskrise, die auch dem Wirtschaftsminister und Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck zugerechnet wird und die generell schlechte Stimmung sowie das Scheitern der Regierung, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) angelastet werden. Eingebettet ist all das in anhaltende Krisenzeiten, die für nicht wenige mit einem Gefühl der Unsicherheit einhergehen dürften.
Ist es also an der Zeit für neue Player im Parteienspektrum?
Ja, sagt Maral Koohestanian, die Spitzenkandidatin der Kleinpartei Volt. "Es ist die Zeit gekommen, in der man Politik neu denken muss. Es braucht neue Menschen in den Parlamenten, die unsere Gesellschaft widerspiegeln: divers, jung, international. Das fehlt gerade", erzählt sie beim Treffen in einem Berliner Café. Die Politikerin ist seit 2021 Mitglied der Partei und hauptberuflich Dezernentin und Stadträtin in Wiesbaden.
Volt will Parteienspektrum aufmischen
Volt Deutschland gibt es erst seit 2018. Zur Europawahl 2019 ist die Partei überraschend direkt mit einem Kandidaten ins Europäische Parlament eingezogen. Vergangenes Jahr wurden daraus fünf. "Unser langfristiges Ziel auf europäischer Ebene ist die Gründung einer europäischen Fraktion, die Volt heißt", sagt Koohestanian. "Es gibt uns in 30 Ländern, wir haben mehr als 30.000 Mitglieder europaweit und wachsen immer weiter. Wir sind in der heißen Phase, in der sich wahnsinnig viel tut bei uns."
Insgesamt gibt es in Deutschland zahlreiche Klein- und Kleinstparteien. "Im Parteienspektrum gibt es immer wieder thematische Lücken, die genau diese Parteien besetzen können", sagt Politikwissenschaftlerin Rustenbeck. Das spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen und Umfragen wider: Zwischen fünf und neun Prozent der Wähler würden sich aktuell für eine Partei entscheiden, die unter dem Stichwort "Sonstige" läuft.
Wie etwa Volt. Spitzenkandidatin Koohestanian ist überzeugt, nicht nur die bier vier Prozent schwächelnde FDP zu überholen, sondern auch in den Bundestag einzuziehen. Ob das realistisch ist?
"Unser Problem ist derzeit, dass der Wahlkampf für uns eine Blackbox ist", sagt die Politikerin. "Wir wissen nicht, wo wir in den Umfragen stehen." Der Grund: Auch die Partei kennt nur den Sammelwert bei "Sonstige". Das mache es sehr schwierig, die tatsächliche Lage einzuschätzen, sagt Koohestanian.
Verschenkte Stimmen: Was ist dran?
Der Kampagnenverein Campact warnt ausdrücklich davor, Volt und andere Kleinparteien zu wählen. Aus Sicht der Initiatoren wäre die Stimme nicht nur verschenkt, sondern würde am Ende der AfD nutzen. Politikexpertin Rustenbeck sagt dazu: "Werden Parteien gewählt, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, bedeutet das natürlich, dass die abgegebenen Stimmen, die sich auf diese Parteien vereinen, nicht in Form von Mandaten im Parlament vertreten sind."
So würde das innerparlamentarische Kräfteverhältnis verschoben, was wiederum auch zu Gunsten der AfD geschehe. "Wenn man in Zeiten des wachsenden Extremismus taktisch wählen möchte, um diesem parlamentarisch etwas entgegenzusetzen, ist die Wahl einer Klein- oder Kleinstpartei, bei der die Fünf-Prozent-Hürde in weiter Ferne liegt, tatsächlich keine gute Idee", merkt sie an.
Das sieht Volt anders. Koohestanian sagt: "Wenn wir immer nur die alten Parteien wählen, wird sich nie etwas ändern in der Parteilandschaft und damit in unserer Gesellschaft. Wenn man 'Neu' will, muss man auch 'Neu' wählen." Rustenbeck spricht den Kleinparteien auch abseits der Vertretung ihrer Wählerschaft im Parlament eine wichtige Funktion zu: das sogenannte Agenda-Setting. Das bedeutet, sie bringen neue Themenfelder und Lösungsansätze in den politischen Diskurs ein.
Politisch angespannte Zeiten machen es Kleinparteien schwer
Die Politikwissenschaftlerin will keine Wahlempfehlung abgeben, gibt aber zu bedenken: Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie gefährdet sei, stünde die Frage im Raum, ob man sich eine solche Wahl leisten könne.
"Am Ende geht es darum, dass eine funktionierende Regierung gebildet werden muss – und das ist in Zeiten, in denen sich das parlamentarische Kräfteverhältnis zugunsten einer Partei verschiebt, mit der nicht koaliert wird, schwieriger." Diese Verschiebung kann durch die Wahl von Kleinparteien, die ihren Einzug ins Parlament nicht schaffen, begünstigt werden.
Prinzipiell bestehe aber die Möglichkeit, dass sich auch neue kleine Parteien etablieren können – nämlich dann, wenn sie es schaffen, eine Lücke zu schließen und ein Thema zu bedienen, das von den anderen Parteien nicht ausreichend beachtet wird. So haben sich etwa die Grünen etabliert, oder auch Linke und AfD. Ob diese Lücke bei Volt gegeben ist, kann Rustenbeck nicht sagen. Sie glaubt eher, dass die angesprochene Wählerschaft eine ähnliche ist wie die der Grünen. Für die angeschlagene FDP hingegen dürfte Volt aus ihrer Sicht kaum einen Ersatz darstellen.
Koohestanian sieht ihre Chance trotzdem jetzt: "2021 war die Zeit der progressiven Parteien, da war wenig Platz für Volt." Jetzt seien viele Menschen enttäuscht von der Ampel, wollten aber auch nicht konservativ oder rechts wählen. "Für diejenigen sind wir die beste Wahl."
Verwendete Quellen
- Treffen mit Maral Koohestanian
- Gespräch mit Heinrike Rustenbeck von der TU Chemnitz
- Sonntagsfrage Bundestagswahl: "wahlrecht.de"
- Repräsentative Erhebung durch Civey im Auftrag unserer Redaktion
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