CDU und SPD droht in Baden-Württemberg ein Wahldebakel. Grüne und FDP erwarten dagegen sehr starke Ergebnisse - so stark, dass sie womöglich miteinander eine eigene Regierung bilden können. Grün-Gelb wäre eine Sensation und dann Deutschlands erste "Limetten-Koalition".
Am kommenden Sonntag entscheiden gut 7,7 Millionen Wahlberechtigte die politische Zukunft Baden-Württembergs. Der aktuelle Umfragetrend lässt Dramatisches erwarten. Der CDU droht ein veritables Wahldebakel. Gerade noch 24 Prozent kann sie erhoffen. Damit droht der Union, dass sie ihr historisch niedriges Ergebnis von 2016 (27 Prozent) nochmals unterbietet.
Auch für die SPD sieht es bitter aus - nur noch zehn Prozent der Wähler sprechen sich in den aktuellen Umfragen für die Sozialdemokraten aus. Auch hier wäre das Katastrophenergebnis von 2016 (12,7 Prozent) abermals verschlimmert - sogar ein einstelliges Resultat halten die Demoskopen für denkbar.
Landtagswahl in Baden-Württemberg: Grüne und FDP haben Aufwind
Beinahe spiegelbildlich steigen hingegen die Umfragewerte für Grüne und Liberale. Der amtierende Ministerpräsident
Demoskopen weisen darauf hin, dass dieser Trend weg von den Parteien der Berliner Regierungskoalition hin zu Grünen und Liberalen sich in dieser Woche verstärken könnte, weil die Bundesregierung mit Fehlern und Skandalen in der Corona-Politik negative Schlagzeilen mache. Der "Erwartungskorridor" für die Grünen in Baden-Württemberg liege daher bei 34 bis 37 Prozent, für die Liberalen bei zehn bis 13 Prozent. Die AfD wird hingegen klar hinter ihrem Ergebnis von 2016 taxiert. Die FDP könnte also SPD wie auch AfD überholen und zur drittstärksten Partei in Baden-Württemberg aufsteigen.
Regiert im Ländle künftig eine "Limetten-Koalition"?
Damit eröffnet sich für die politische Landschaft eine völlig neue Regierungsoption - eine Koalition aus Grünen und Liberalen wird erstmals in Deutschland denkbar: die grün-gelbe "Limetten-Koalition". Bislang war man in Stuttgart davon ausgegangen, dass das Bundesland künftig entweder von einer fortgesetzten grün-schwarzen Regierung geführt wird oder von einer neu formierten Ampelkoalition (Grüne, SPD, FDP). Der jüngste Umfragetrend deutet nun an, dass vielleicht auch die "Limetten-Koalition" möglich wird.
FDP und Grüne haben ihre politischen Beziehungen seit einiger Zeit gezielt entspannt. Der FDP-Vorsitzende
Und zu Kretschmann sagt Lindner lobend, der sei ein bürgerlich Vernünftiger: "Die Grünen von Herrn Kretschmann in Baden-Württemberg unterscheidet manches von den nach links strebenden Grünen im Bund."
Unter politischen Profis beider Parteien gilt die Limetten-Koalition gleichwohl als "super-exotisch" und "unwahrscheinlich". Lange Zeit klafften zwischen Grünen und Liberalen tiefe politische Gräben. Für den linken Flügel der Grünen ist die FDP die Keimzelle des verhassten "Neo-Liberalismus", für den Wirtschaftsflügel der Liberalen sind die Grünen neo-sozialistische Öko-Ideologen - die Feindbilder von Verbots- und Kapitalistenpartei prallen aufeinander.
Aus beiden Berliner Parteizentralen ist daher zu hören, dass eine rein numerische Mehrheit für eine Limetten-Koalition nicht ausreicht, sie wäre zu instabil - und sie würde in den eigenen Parteireihen auf Widerstand treffen. "Die Limette ist uns zu sauer und exotisch", warnt ein grüner Bundestagsabgeordneter.
Kretschmann und Rülke sind auf einer Wellenlänge
In Baden-Württemberg sehen die Verhältnisse freilich anders aus. Kretschmann ist wegen seines bürgerlichen Profils für die Liberalen anschlussfähig. Der FDP-Landesverband in Stuttgart ist ganz offiziell bereit für eine Ampelkoalition - eine Limetten-Koalition wäre sogar noch attraktiver für die FDP. Die Berliner Vorbehalte hat man im Ländle nicht so stark. Der FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke, eigentlich ein Wirtschaftsliberaler, lobt Kretschmann für dessen Verteidigung der schwäbischen Autoindustrie.
Rülke und Kretschmann haben in den vergangenen Monaten ein gutes persönliches Verhältnis zueinander aufgebaut. Ein symbolischer Auslöser für die neue Limetten-Stimmung war ein Auftritt Kretschmanns im März 2020 auf der Burg Hohenzollern. Auf Einladung des FDP-Landeschefs Michael Theurer hielt Kretschmann dort eine Rede zum Gedenken an den früheren FDP-Außenminister Klaus Kinkel. Dabei lobte er den "mitfühlenden Liberalismus" und dankte Rülke ausdrücklich für dessen Engagement gegen rechts, insbesondere in seinen Reden im Parlament: "Danke, dass Sie da immer so klar sind."
Liberale und Grüne sind seitdem in Baden-Württemberg auf Annäherungskurs. Heute räumt Rülke mit Blick auf die Regierungsbeteiligung sogar eine denkbare Sorge beim grünen Koalitionspartner vorsorglich schon aus dem Weg und erklärt, im Falle einer Koalition mit den Grünen auch einen Nachfolger von Ministerpräsident Winfried Kretschmann mitzuwählen und die Koalition fortzusetzen.
Das zielt auf den grünen Fraktionschef Andreas Schwarz, der als Kretschmann-Nachfolger gehandelt wird. "Wenn man einen Koalitionsvertrag abschließen sollte, macht man das an Inhalten fest und nicht am Personal", gibt der FDP-Fraktionschef in einem Zeitungsinterview zu Protokoll. "Es gäbe für uns also keinen Grund, die Koalition mit einem Ministerpräsidenten Andreas Schwarz nicht fortzusetzen. Auf dem Weg zu einer Regierungsbeteiligung im Bund wäre eine Regierungsbeteiligung in Baden-Württemberg ein gutes Signal."
Rülke betont explizit: "Ich habe zum grünen Fraktionsvorsitzenden ein hervorragendes Arbeitsverhältnis und auch ein ausgesprochen gutes persönliches Verhältnis." Die Stuttgarter Limette schmeckt offenbar nicht sauer, sondern schon süß.
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