• FDP und CDU stecken Wahlschlappen in Niedersachsen ein, die AfD triumphiert: Im Vergleich zur letzten Landtagswahl kann sie ihr Ergebnis fast verdoppeln – und zieht dabei Wählerstimmen aus fast allen Lagern.
  • Die AfD galt zuletzt eigentlich als schwächelnde Kraft, verlor sogar eine Landtagswahl nach der nächsten.
  • Wieso die AfD jetzt wieder punktet und ob sich eine Trendwende abzeichnet, beantwortet Politikwissenschaftler Matthias Freise.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die AfD hatte in den letzten Wochen mehrmals Grund zum Feiern: In Italien gewann Ende September das Rechtsbündnis unter Giorgia Meloni die Wahl. Der AfD-Abgeordnete Malte Kaufmann triumphierte im Anschluss: "Ein guter Tag für Italien – ein guter Tag für Europa. Gratulation!".

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Am vergangenen Wochenende wählte Niedersachsen ein neues Landesparlament – während es Wahlschlappen für CDU und FDP gab, konnte die AfD ihr Ergebnis verdoppeln. Vor fünf Jahren hatte sie mit 6,2 Prozent der Stimmen noch im einstelligen Bereich gelegen, jetzt verdoppelte sie beinahe ihr Ergebnis auf 10,9 Prozent. Alice Weidel befand im Anschluss: "Es zeigt sich, dass der Kurs der AfD stimmt."

Mit "voller Schlagkraft" zurück?

Und dann kam der AfD-Kandidat Lars Schieske immerhin bis in die Stichwahl zum Oberbürgermeister von Cottbus. Er unterlag am Ende dem SPD-Kandidaten, Weidel gratulierte dennoch zum "beachtlichen Ergebnis".

Eine besondere Genugtuung war der Wahlsieg auch für den Co-Vorsitzenden der Partei, Tino Chrupalla. Das erste Mal in seiner dreijährigen Amtszeit erlebte er, dass die AfD Prozentpunkte bei einer Bundestags- oder Landtagswahl zugelegt hat. Aus Sicht der AfD ist die Partei in Niedersachsen mit voller Schlagkraft zurück. Chrupalla sagte, von einer Protestpartei könne nicht mehr die Rede sein, denn "alles was über zehn Prozent ist im Westen, ist Volkspartei".

AfD ist stärkste Kraft im Osten

Dabei galt die AfD zuletzt eigentlich als schwächelnde Kraft. Ihre Führung ist chronisch zerstritten, die letzten Landtagswahlergebnisse waren schwach. Tausende Mitglieder traten aus, Meinungsforscher glauben nicht, dass sie noch wachsen kann. Die jetzigen Meldungen, gerade das Wahlergebnis in Niedersachsen, deuten einen anderen Trend an. In Niedersachsen liefen laut "infratest dimap" jeweils 40.000 Wähler von CDU und FDP zur AfD über, aus dem Lager der SPD und den Nicht-Wählern waren es jeweils 25.000. Nur von den Grünen konnten die Rechtspopulisten keine Stimmen ziehen.

Knapp ein Jahr nach der Bundestagswahl ist die AfD in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Insa" stärkste Kraft in Ostdeutschland. Bei der sogenannten Sonntagsfrage geben in den fünf östlichen Bundesländern 27 Prozent an, der AfD ihre Stimme zu geben. In den westlichen Bundesländern sind es 12 Prozent. Bei der Bundestagswahl kam die AfD auf knapp 10 Prozent der Zweitstimmen. Ereignet sich nun also eine Trendwende?

Experte: "AfD profitiert von Krisen"

Auch Politikwissenschaftler Matthias Freise hält das Ergebnis der AfD in Niedersachsen für bemerkenswert. "Eigentlich gibt es in Niedersachsen eine starke Parteibindung", erinnert er. Die AfD habe aber aus anderen Lagern Stimmen abgegriffen und sogar Nicht-Wähler mobilisiert. Grund dafür ist aus Sicht des Politikwissenschaftlers vor allem, dass die AfD wieder Fahrwasser hat. "Die AfD hat immer dann profitiert, wenn Deutschland in eine Krise gerutscht ist", erinnert er. Sie sei im Zuge der Eurokrise entstanden und habe auch bei der Flüchtlingskrise großen Zuwachs erfahren.

"Nur die Coronakrise war schwieriger politisch zu verarbeiten. Der Umgang mit der Pandemie war hochumstritten, selbst innerhalb der Parteien", erklärt er. Dass die Menschen in Niedersachsen vermehrt ihr Kreuz bei der AfD machten, habe damit zu tun, dass die Auswirkungen der energie- und außenpolitischen Krise nun spürbar würden. Freise meint: "Die Krise bedeutet für die AfD Wasser auf ihre Mühlen".

Zornige wählen AfD aus Protest

Deutschland werde einen erheblichen Wohlstandsverlust hinnehmen müssen, auch Teile der Mittelschicht seien stark von den Preissteigerungen betroffen und würden sich erheblich einschränken müssen. Die führenden deutschen Wirtschaftsinstitute rechnen angesichts der enorm gestiegenen Energiepreise mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im kommenden Jahr um 0,4 Prozent. In einem Gutachten im Frühjahr waren sie noch von einem Wachstum von 3,1 Prozent ausgegangen.

An der Prognose sind das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI), das Leibniz-Institut in Halle (IWH), das Münchner Ifo-Institut und das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel beteiligt. Die Wirtschaftsinstitute beziffern die Inflation im kommenden Jahr im Schnitt mit 8,8 Prozent – nach 8,4 Prozent in diesem Jahr.

"Das alles sorgt in der Bevölkerung für erhebliche Verärgerung. Und die AfD spricht die Zornigen an", sagt Freise. Die Wähler wollten dabei nicht eine bestimmte Partei im Koalitionsbündnis abstrafen, sondern allgemein ihrem Frust über die etablierten Parteien Gehör verschaffen. "Sie fühlen sich von der Politik alleingelassen und bangen um ihren Wohlstand", sagt der Experte.

Angebot: Rückbesinnung auf das Nationale

Umfragen zeigen, dass die Sorgen und Ängste angesichts derzeitiger Krisen bei der AfD-Wählerschaft stärker ausgeprägt sind als bei Anhängern anderer Parteien. Deutschlandweit fühlen sich laut Daten von "infratest dimap" 75 Prozent aller Befragten "beunruhigt" über die wirtschaftliche und politische Lage im Land. Bei der Wählerschaft der AfD sind es sogar 93 Prozent. 84 Prozent der AfD-Anhänger sprachen dabei von einer "Ungerechtigkeit", die sie empfänden, fast genauso viel (83 Prozent) zeigten sich unzufrieden mit der Demokratie in Deutschland.

Aus Sicht von Freise besteht das Angebot der AfD dabei vor allem in einer Rückbesinnung auf das Nationale. "Gegenüber Russland fordert die AfD schon seit Längerem eine Politik der Zugeständnisse. Damit wäre Deutschland im Westen nun völlig isoliert gewesen. Russland will, dass das westliche Wertegebäude zusammenstürzt", sagt er. Die AfD fordert aktuell ein Ende der Sanktionen gegen Russland und wieder Importe von russischem Gas. Energiesicherheit soll geschaffen werden, indem man wieder längerfristig auf Atomkraft setzt.

Trend dürfte anhalten

Dass der Aufwärtstrend der AfD anhält, davon geht der Politikwissenschaftler aus. "Wie stark, hängt davon ab, wie dramatisch die Auswirkungen der Ukraine- und Energiekrise ausfallen", meint Freise. Der Trend dürfte sich aber in den anderen Bundesländern fortsetzen. Die nächsten Landeswahlen stehen im kommenden Jahr im Frühjahr und Herbst in Bremen und Bayern an. "Die Frage wird auch sein, ob es hier andere Parteien gibt, die sich als Alternative zur etablierten Politik positionieren können. Das sehe ich aktuell nicht", sagt Freise.

In Bremen kam die AfD bei der letzten Landtagswahl 2019 auf 6,1 Prozent der Stimmen und liegt in aktuellen Umfragen bei 9,5 Prozent. In Bayern erlangte sie 2018 knapp 10 Prozent der Stimmen und liegt in aktuellen Umfragen auf demselben Niveau. Bundesweit würden aktuell 14,6 Prozent ihr Kreuz bei der AfD machen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre.

"Niedergang bedeutet für Demokratien eine große Bedrohung", sagt Freise. In der Vergangenheit habe immer eine große Gefahr für Demokratien bestanden, wenn es zu erheblichen wirtschaftlichen Einbrüchen kam. "Die Gefahr besteht darin, dass eine Partei profitiert, die demokratische Grundwerte infrage stellt", sagt er.

Über den Experten: PD Dr. Matthias Freise ist Politikwissenschaftler an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen vergleichende Politikwissenschaft, Demokratietheorie und Europaforschung.

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Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Matthias Freise
  • dawum.de: Neueste Wahlumfrage zur Bürgerschaftswahl in Bremen
  • dawum.de: Neueste Wahlumfragen im Wahltrend zur Landtagswahl in Bayern
  • dawum.de: Neueste Wahlumfragen im Wahltrend zur Bundestagswahl
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