"Du siehst drei Deutsche, sechs Ausländer – wo soll denn das hinführen!", schimpft ein Jugendlicher in der Pause einer Bürgerversammlung.

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Einige Teilnehmer stehen vor dem SOS-Familienzentrum in Hellersdorf, es ist eine ruhige Gegend. Womöglich hat sich Druck in dem Teenager aufgebaut. Das Thema, das ihn offenbar beschäftigt, kam in der Einwohnerversammlung am Dienstagabend nicht direkt zur Sprache.Solche Bürgerversammlungen werden regelmäßig von der Bezirksregierung Marzahn-Hellersdorf abgehalten, jedes Mal in einem anderen Kiez. Sie sind ein Beispiel für Bürgernähe. Die Anwohner erhalten eine Einladung mit der Post. Sie sollten sich anmelden, können vorab Fragen und Anliegen loswerden. Am Eingang erhalten sie Namensschilder.

Im Kiez Hellersdorf-Nord ist das Interesse am Dienstagabend riesig. Der große Raum im Familienzentrum ist rappelvoll. Um die 60 Anwohner werden von der CDU-Bezirksbürgermeisterin Nadja Zivkovic begrüßt, darunter auch einige im mittleren Alter. Ganz besonders aber freut sich Zivkovic über die Gruppe der Jugendlichen. Die Anwesenheit von Teenagern in einer solchen Versammlung sei ihres Wissens "ein echtes Novum", verkündet sie erfreut und fragt in die Runde, wer unter 18 Jahre alt ist. Ein halbes Dutzend Arme geht hoch, auch der Arm des jungen Mannes, der später in der Pause seinen Unmut über Einwanderer ventilieren wird. Es gibt Applaus für die jungen Gäste.

Blickt man an diesem Abend die Alte Hellersdorfer Straße hinunter, bestätigt sich der Eindruck von "Überfremdung" zwar nicht, völlig von der Hand zu weisen ist er indes auch nicht. Aus dem geöffneten Fenster eines vorbeirollenden Autos ist orientalische Musik zu hören. Über den Bürgersteig heizen gleich drei vermutlich arabische Teenager auf einem einzigen Leih-E-Roller. Sie brettern in Maximalgeschwindigkeit dicht an einem jungen Mann mit wenig Haar vorbei. Man sieht ihn schon den Ellenbogen ausfahren, aber alles bleibt ruhig. Eines ist auch klar: Heute gibt es hier viel weniger fremdenfeindliche Jugendgewalt als vor noch 20, 30 Jahren. Und das, obwohl die Zahl der Einwanderer stark gestiegen ist.

Hellersdorf-Nord habe "den höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund im Bezirk" Marzahn-Hellersdorf, heißt es auf einem Datenblatt, das bei der Einwohnerversammlung verteilt wird. Auf der Rückseite sind die Anteile für einzelne Teilgebiete aufgelistet. Im Gebiet Helle Mitte sind "Deutsche ohne Mh" demnach mit 49,5 Prozent in der Minderheit. 30,7 Prozent der Einwohner sind Ausländer, 19,8 Prozent "Deutsche mit Mh". In anderen Gebieten sind die sogenannten Kartoffeldeutschen nur noch knapp in der Mehrheit. In der Hellersdorfer Promenade kommen sie auf 52,3 Prozent, am Havelländer Ring auf 53,8 Prozent. Dazu kommt die Geschichte der ostdeutschen Plattenbauviertel als ruhige Schlafstädte. Es gab hier lange wenig öffentliches Leben; das ändert sich allmählich.

Bei der Einwohnerversammlung im Familienzentrum werden mit einem Quiz die Bezirksstadträte vorgestellt. Es geht um die Neugestaltung von Plätzen, die Zukunft des Einkaufscenters Helle Mitte, das immer leerer wird. Um die Herausforderungen der zunehmenden Verdichtung für die Infrastruktur. Die Bezirksbürgermeisterin Zivkovic thematisiert auch die Größe der Hasen, die um die Ecke durch das Naturschutzgebiet hoppeln: Erstaunliche 50 Zentimeter dürften das sein.

Außerhalb des Saals werden indes andere Themen behandelt. "Die Neubauten, die da hinten stehen, da wohnen nur Ausländer drin", behauptet ein Jugendlicher während der Pause; er zeigt auf eine Kleingartenanlage. Deutsche würden dort keine Wohnungen bekommen, sagt der junge Mann.

Die Rede ist von modernen Fünfgeschossern mit bodentiefen Fenstern, Balkonen, einem unverbauten Blick über die Gärten. Sie stehen am Havelländer Ring und werden von der Gesobau AG vermietet, einem von sechs kommunalen Wohnungsunternehmen. Dass hier nur Ausländer leben würden, kann die Pressesprecherin Birte Jessen nicht bestätigen. "Als landeseigene Wohnungsbaugesellschaft ist es unser Auftrag, Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen", erklärt sie auf Nachfrage. "Die Gesobau bietet allen Menschen, unabhängig von Herkunft, Einkommen, Alter et cetera ein sicheres Zuhause." Das heißt, sie "vermietet diskriminierungsfrei".

Es ist im Übrigen auch nicht so, dass die kommunalen Unternehmen in Absprache mit dem Senat einen bestimmten Anteil ihrer Wohnungen an Geflüchtete vermieten müssen, wie der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) auf Nachfrage mitteilt: "Feste Quoten nur für Geflüchtete" gebe es in der entsprechenden Kooperationsvereinbarung nicht. "Lediglich das Segment ‚Wohnen für Flüchtlinge‘ beinhaltet eine Absprache mit den sechs Landesunternehmen für mindestens 275 Wohnungen im Jahr."

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Vorurteile sind mitunter leicht zu entkräften. Aber dafür müssen die Themen auch öffentlich zur Sprache gebracht werden. Mutmaßlich wollte der Teenager wohl nicht als Nazi abgestempelt werden. In diesem Sinne wurde auf der Bürgerversammlung eine Chance verpasst, denn es gab Unterschiede zwischen dem, worüber drinnen und draußen geredet wurde. Aber die bürgernahen Volksvertreter können auch von sich aus solche Themen ansprechen und die damit verbundenen Ängste.  © Berliner Zeitung

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