Olivier Latry: Mit seiner Improvisation hat der Titularorganist von Notre-Dame in Frankfurt am Ende alle Maßstäbe gesprengt.

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Wie hoch qualifiziert professionelle Kirchenmusiker sind, ist vielen nicht bewusst. Sie sind als Chorleiter und Dirigenten ausgebildet und zeigen sich doch als Organisten allenfalls bei Konzerten mal kurz zum Applaus auf der Empore. Sie binden ihr Können im doppelten Sinne in den Gottesdienst ein, unsichtbar zumeist unter dem alten Motto "Soli deo gloria". Es gibt nur wenige, die das tun und zugleich als Konzertorganisten zu großer Bekanntheit gelangen. Der virtuoseste von ihnen ist Olivier Latry, der als Titularorganist von Notre-Dame am 8. Dezember bei der Wiedereröffnung der durch den Brand 2019 unnutzbar gewordenen Pariser Kathedrale die glücklicherweise erhalten gebliebene und zwischenzeitlich gründlich gereinigte Cavaillé-Coll-Orgel spielen wird.

Wer Latry nun in der Reihe der Frankfurter Bachkonzerte in der Alten Oper erlebt hat, bekam eine Ahnung davon, was das auch für ein musikalisches Ereignis werden wird. Denn was er der 1981 nach damaligen Klangidealen gebauten Orgel der Firma Schuke mit ihren 59 Registern an Effekten und Klangfarbenreichtum abgewann, ließ einem phasenweise den Atem stocken. An der mehr als doppelt so viele Register zählenden Orgel von Notre-Dame und in der ihm vertrauten Kathedralakustik dürfte sich die enorme Wirkung noch verstärken. Sein horrendes spieltechnisches Können, das er intelligent nutzt, die Werkwahl, die Interpretation und vor allem seine finale Improvisation machten den Abend zu einem Höhepunkt des Jahres im Konzertbetrieb des Rhein-Main-Gebiets.

Geistreiche Auseinandersetzung mit Ravels Boléro

Latry begann mit einer Reverenz an Bach mit Transkriptionen der Sinfonia aus der Kantate "Wir danken Dir, Gott" BWV 29 spielerisch konzertant und strahlend sowie dem Siciliano aus der Sonate BWV 1031 in gedeckten und Flötenklängen sanft wiegend nach Art einer Hirtenmusik. Marcel Duprés gespenstisch huschendes Präludium und die dazugehörige packende Fuge in g-Moll waren in der trockeneren Konzertsaalakustik bestens durchhörbar. Pierre Cocheraus "Boléro sur un thème de Charles Racquet" war einer der Beiträge, die lange in Erinnerung bleiben werden, zumal sich dafür zwei Schlagzeuger an kleinen Trommeln hinzugesellten, um den ostinat durchgehenden Rhythmus zu schlagen. Das Ganze erwies sich als geistreiche Auseinandersetzung mit Ravels Boléro in moderner Klangsprache, die im von Latry weiträumig gesteuerten Crescendo und mit zunehmender Dissonanzschärfe bis zur Mitte mit zentralen Beckenschlägen anwuchs und dann langsam wieder abebbte. Die teils humorvoll verfremdende Hommage kam im sehr gut besuchten Großen Saal bestens an – wie auch das futuristische Finale aus der ersten Sonate von Jean- Pierre Leguay, der inzwischen 85 Jahre alt ist und neben Latry lange als einer der vier Titularorganisten von Notre-Dame tätig war. Das war ein aberwitzig virtuoser Satz am Rande der Spielbarkeit mit rasendem Laufwerk und Klängen, die an elektronische Musik mit Computertechnik denken ließen. Die Orgelsymphonie Nr. 3 in fis-Moll von Louis Vierne stellte Latry in ihrer avancierten Chromatik auswendig spielend ebenfalls brillant dar. Seine Improvisation über den Luther-Choral "Nun komm, der Heiden Heiland" sprengte alle Maßstäbe: nach Art der Minimal Music, als Trauermarsch oder toccatenhaft wild. Die Zugaben waren Saint-Saëns’ "Aquarium" und ein Satz aus der ersten Sonate von Alexandre Guilmant.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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