Altersforscher gibt Rat: Gerade feierte der Altersforscher Helmut Luft seinen 100. Geburtstag. Ein Gespräch über Freunde, Gesangsunterricht und was sich ab 90 ändert.

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Herr Luft, Sie beschäftigen sich jetzt seit 30 Jahren mit dem Älterwerden. Warum?

Das kam, als ich selbst gemerkt habe, dass ich als alt gelte, mich aber keineswegs so gefühlt habe. Ich hatte eine Klinik mit hundert Betten und hörte immer auf Kongressen, bei den Alten gälten andere Gesetze bei Medikamenten und im Umgang. Da habe ich mich gefragt, ab wann ist man eigentlich alt? Ich habe das systematisch untersucht, bis sechzig und ab sechzig bis unendlich. Da gibt es gewaltige Unterschiede.

Was passiert im Körper, wenn man alt wird?

Auf allen Gebieten findet ein Abbau statt. Zum Beispiel kann man nicht mehr gut laufen, man verliert das Gleichgewicht und den aufrechten Gang. Das habe ich jetzt, ich bin ein paarmal schwer gestürzt. Ich muss den Stock nehmen. Der Rollstuhl steht bereit, aber noch versuche ich, ob es ohne geht, denn dann müsste ich mein Leben gewaltig umstellen. Alles wird langsamer, die Nervenleitgeschwindigkeit lässt mit jedem Jahr nach. Auch die Sinneswahrnehmung, das Sehen und Hören. Man braucht Brillen. Und Hörgeräte, aber die sind für die Alten oft zu kompliziert. Ich rate dennoch, sich das vom Enkel einstellen zu lassen, denn dann kann man kommunizieren. Hörgeräte halten einen im Beziehungsnetz, und das ist ganz entscheidend.

Es ist also wichtig, dass man nicht einsam altert, sondern mit Familie oder mit Freunden?

Wir werden ja nun 20 Jahre älter als unsere Vorfahren. In der Familie sind wir jetzt schon in der dritten, vierten Generation, und die haben längst ihre eigenen Familien. Und da wir nicht mehr auf dem Land unter einem Dach leben, sondern mobil sind, leben die jetzt in Australien oder in Kanada. Da geht der Familienzusammenhalt leicht verloren. Man muss sich dann Wahlverwandte mit gleichen Interessen suchen.

Und die haben Sie?

Die Golfer habe ich. Den Chor. Dann pflege ich Kontakt mit ein paar Kollegen. Und ich habe die Schlaraffen entdeckt, das ist ein Kulturverein in Mainz, und da muss jeder immer etwas bieten, ein Gedicht oder ein Lied. Deshalb habe ich noch mal Klavierspielen gelernt.

Wann haben Sie angefangen, Klavier zu spielen?

Ich habe das in der Jugend gelernt. Dann kam der Krieg, und alles war vorbei. Ich dachte, nie wieder kann man Klavier spielen, nie wieder kann man singen oder Gedichte schreiben. Aber im Alter hat man Zeit und fragt sich, wer war ich damals? Kann ich da wieder anknüpfen? Kann ich wieder der werden, der ich eigentlich bin, wo ich aber im Erwachsenenleben keine Zeit und keinen Sinn für hatte? Aber Klavierspielen ging nicht so gut, weil die Finger nicht mehr so mitmachen und ich die Noten nicht mehr gut sehen kann. Dann bin ich darauf gekommen zu singen, da gilt kein Alter. Überhaupt ist man für nichts zu alt, man muss es probieren. Jetzt nehme ich einmal in der Woche Gesangsunterricht und singe, ich bin schon ein Experte für Schubert.

Sie sind Arzt, Sie sind aber auch Psychoanalytiker, Sie haben Körper und Geist studiert. Wie spielen die denn zusammen?

Es ist immer gut, beides im Blick zu haben. Ich war als Arzt auch zuständig für den Körper, den die Patienten dummerweise dabeihatten, ich musste den behandeln. Interessiert hat mich die Psyche. Ich habe gemerkt, das geht Hand in Hand. Wenn man sich die Zeit nimmt – und das war eine Kurklinik, ich hatte die Zeit – und die Leute reden lässt, dann kommt raus: Dieser schreckliche Schmerz, den kein Arzt wegbekommen konnte, der kam zum ersten Mal bei der Beerdigung der Mutter. Da hat man Aha-Erlebnisse. Man lässt die Patienten reden, und irgendwann ist von Schmerzen nicht mehr die Rede. Aber das geht nicht immer so, und manche kann man auch nicht erreichen. Aber manchmal kann man Wunder bewirken, wenn man das ganzheitlich betrachtet und den Menschen und seine Lebensgeschichte miteinbezieht.

Damit waren Sie ein ziemlicher Vorreiter, oder?

Ja, und dafür werbe ich. Wir werden jetzt 20 Jahre älter, wir haben die Zeit, über uns nachzudenken, über unseren Körper, über unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Viele tun das unbewusst und fragen sich, wer bin ich, was hätte aus mir werden sollen, aber das macht man sich nicht so bewusst. Und deshalb kommt man nicht weiter, bestraft sich selbst, fängt etwas an und macht es dann für sich kaputt. Man muss sich auch mal kurz zurücklehnen und fragen, Moment, was war da eben Störendes? Auch Träume sind interessant, ich empfehle sehr, ein Traumtagebuch zu führen.

In der Pandemie haben auch viele Menschen davon berichtet, plötzlich stärker und bewusster zu träumen.

Da hat sich vieles geändert, weil sie auf einmal zu Hause bleiben mussten und Zeit zum Nachdenken hatten. Da kam hervor, was eigentlich natürlich ist, was wir aber unterdrücken, weil das Leben aus viel Action besteht. Man muss auch mal Ruhe haben und überlegen können, was von der ganzen Action einem wichtig ist und worauf man besser verzichtet.

Gibt es da Techniken? Meditation, singen, gärtnern?

Das ist alles gut. Sie können sich der Natur zuwenden und sehen, wie die Pflanzen wachsen. Ich war die ersten sechs Jahre meines Lebens ein Bauernbub. Dann kam ich in die Stadt und habe den Bauernbuben verachtet, ich hatte Minderwertigkeitskomplexe. Obwohl ich dann Abitur gemacht habe, studiert habe und Professor war, habe ich immer gedacht, ich bin minderwertig, da kam immer diese Selbsterniedrigungstendenz rein. Das habe ich lange nicht durchschaut. Erst im hohen Alter habe ich das kapiert und bin jetzt darüber hinweg. Ich habe jetzt, bei aller Selbstkritik, eine Selbstsicherheit gewonnen, die ich in meinem ganzen Leben nicht hatte.

Wenn man mit 65 Jahren aufhört zu arbeiten, fallen viele in ein Loch, weil sie keine Funktion mehr haben oder keinen Titel. Wie kann man damit gut umgehen?

Es gibt ein Drittel, die fallen in ein Loch. Das ist der sogenannte Pensionierungsschock. Ein Teil davon stirbt innerhalb eines halben Jahres, die anderen bekommen schwere Depressionen oder etwas Psychosomatisches. Es braucht etwa ein Jahr, bis man sich dann findet. Dann gibt es die anderen zwei Drittel, die wirklich etwas damit anfangen können, für die nach der Pflicht die Kür kommt. Aber die haben auch vorher schon Interessen gehabt, die haben sich mit der Arbeit nicht vollkommen identifiziert. Man sollte sich fragen, wer bin ich und was kann ich jetzt im Alter tun, um der zu werden, der ich bin? Was macht mir Spaß? Singen! Ich fange schon morgens damit an.

Wahrscheinlich hilft es auch, sich selbst nicht immer so bierernst zu nehmen.

Humor ist etwas ganz Wichtiges. Humor ist im Menschen angelegt, der ist wie gütige Eltern, die einen trösten und einem sagen, nimm es nicht so ernst, das ist doch halb so wild. Mir hat der Humor sehr geholfen, um aus Corona herauszukommen. Ich hatte lange Fatigue, und ganz ist das immer noch nicht weg.

Als Sie Ihr Buch "Gutes Altern" geschrieben haben, waren Sie 86 Jahre alt. Was haben Sie seitdem dazugelernt?

Das Altern ist wie eine Aufwärtsspirale. Man kommt immer wieder an den gleichen Themen vorbei, aber man sieht sie anders. Nun blicke ich zurück auf das Jahrzehnt ab 90, da wird vielleicht auch ein Buch draus werden. Ich habe den Eindruck, das ist noch einmal ein Qualitätssprung des Denkens, weil der Körper einen völlig im Stich lässt. Die meisten sind zu Hause, viele Aktivitäten fallen weg. Dann hat man Zeit. Man ist schon mit einem Bein in der Ewigkeit, und es kommen einem Gedanken, die einem vorher nicht kommen. Etwa über Spirituelles, das ist dann einfach da. Die Tragik ist, dass man das Jüngeren nicht erzählen kann, weil sie es nicht verstehen.

In meiner Vorstellung kommen mit dem Alter auch Freiheiten. Dass man sich nicht mehr darum schert, was andere über einen denken.

Man hat viele Freiheiten, auch die Freiheit der Unabhängigkeit vom Urteil anderer. Man weiß, wo man Schwächen hat, aber man kennt auch seine Stärken. Ich sammle momentan die letzten Werke von Analytikern, die fast 100 Jahre alt geworden sind. Also ihr Vermächtnis, das sie aber nicht mehr mitteilen konnten, weil das von den Verlagen nicht angenommen wurde, denn vieles hielt man für verwirrtes Gerede älterer Leute. Manchmal ist es das auch, aber manchmal auch nicht. Manchmal sind das Erkenntnisse, die einem zehn Jahre zuvor einfach noch nicht gekommen sind und nicht kommen konnten, weil man noch nicht reif dafür war.

Ich bin jetzt 50 Jahre alt, halb so alt wie Sie. Was meinen Sie, liegt die bessere Hälfte des Lebens noch vor mir?

Ich vertrete die Ansicht, es ist die weitaus bessere Hälfte.

Das wollte ich hören! Und wie werde ich nun hundert Jahre alt?

Gute Gene sind wichtig, aber nicht unbedingt nötig. Das Zweite ist: Man muss Glück haben. Nur durch Glück habe ich den Krieg überlebt, alle meine Freunde haben ihn nicht überlebt. Aber wir sind da nicht unbeteiligt, wir haben ein Mitspracherecht. Gebe ich dem Glück eine Chance, oder mache ich es kaputt? Und das Dritte ist: Man muss vermeiden, vorher zu sterben. Da gibt es die vier Prinzipien Laufen, Lernen, Lachen, Lieben. Bewege ich mich genug? Bin ich neugierig, und interessiere ich mich für etwas? Oder brüte ich dumpf vor mich hin und gucke in die Glotze? Und Lieben ist ganz allgemein aufzufassen. Finde ich heute etwas, woran ich Freude habe? Bejahe ich das Leben, oder gebe ich auf? Aufgeben ist auch eine Option, und irgendwann ist die dran. Aber solange man noch Reserven und Vitalität hat, sollte man etwas daraus machen. Das wäre jedenfalls mein Vorschlag.

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Zur Person

Dr. Helmut Luft, geboren am 11. November 1924 in Babenhausen bei Darmstadt, praktizierte als Nervenarzt und Psychoanalytiker. Von 1965 bis 2000 leitete er die Fachklinik für Psychosomatik in Hofheim, die aus der einstigen Kurklinik hervorging. Seit den Neunzigerjahren beschäftigt er sich mit dem Altern und vertritt dabei eine ganzheitliche Auffassung. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, die sich auch an ein Laienpublikum richten, etwa "Gutes Altern: Verborgene Chancen und Hindernisse" (2011) oder "Der Mann über 60: Ganzheitlicher Ratgeber für junge bis hochbetagte Alte" (2020), beide erschienen bei Brandes & Apsel.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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