Stadtentwicklung: Wenn in einer Kleinstadt ein großes Kaufhaus geschlossen wird und der Einzelhandel verschwindet, dann kann das ihrem Zentrum das Rückgrat brechen. Im hessischen Schlüchtern kann man erleben, wie sich das verhindern lässt.

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"Sehen Sie, die Türme der Abtei?", fragt Matthias Möller und deutet auf drei hölzerne Spielgeräte auf der Dachterrasse. Sie gehören zu einer Erlebniswelt für Kinder, die sich über zwei weitere Etagen zieht. Es gibt einen Märchenwald mit Röhrenrutsche und Klettergeräten, außerdem ein kleines Dorf mit Holzhütten: "Alle angelehnt an Häuser, die es hier im Mittelalter wirklich gegeben hat", sagt der Schlüchterner Bürgermeister mit einigem Stolz.

Das alles findet sich im neuen Kultur- und Begegnungszentrum, das auch einen Kindergarten, die Stadtbibliothek, einen großen Veranstaltungsraum sowie eine Büroetage mit Konferenzraum und Arbeitsplätzen beherbergt. 30 mal 30 Meter misst die Grundfläche des Komplexes, der auch als ein Zeichen des Wandels der Innenstadt steht. Die befindet sich im Umbruch, und den treibt der parteilose Möller voran – weil er keine andere Option für seine kleine Stadt in Hessen mit rund 16.000 Einwohnern sieht.

Wo jetzt das neue Zentrum neben einer großen Baugrube steht, schlug früher das Herz des Einzelhandels in der Stadt: Auf den rund 7500 Quadratmetern des Grundstücks stand das Kaufhaus Langer, ein Vollsortimenter von Lebensmitteln im Tiefgeschoss bis hin zu Sportartikeln und HiFi-Anlagen: "Das war hier der Inbegriff des Einkaufens und der Frequenzbringer für Schlüchtern schlechthin", erzählt Möller. Selbst aus dem 30 Kilometer entfernten Fulda seien Kunden in den Bergwinkel gekommen. Diesen Namen verdankt die Gegend im Osten des Main-Kinzig-Kreises der Kinzig, die dort fast rechtwinklig in ihr Tal abknickt und über Gelnhausen nach Hanau zu ihrer Mündung in den Main fließt.

Der Bürgermeister ist in der Region verwurzelt, in Schlüchtern hat er eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker absolviert, bevor er nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften in seine Heimat zurückkehrte und im Automobilhandel Karriere machte. Möller ist auch mit dem Kaufhaus Langer groß geworden, das aber kurz nach seiner Wahl zur großen Herausforderung für den parteilosen Verwaltungschef werden sollte.

Neue Nutzungsformen für leerstehende Verkaufsflächen

Der GAU, der größtmögliche anzunehmende Unfall für Schlüchtern, ereignet sich im Sommer 2017, als die Eigentümerfamilie das Ende des Kaufhauses ankündigt: "Am 30. April 2018 ist Schluss, hieß es", erinnert sich Möller. Ein Schock für die Stadt und ihren damals 33 Jahre alten Bürgermeister, der erst seit ein paar Monaten im Amt war. Wie sollte er mit dem Verlust des dominierenden Geschäfts umgehen? Liberal, auf die Kräfte des Markts vertrauen?

"Mit dem Markt, das haben wir anfangs versucht, aber alle wollten dort so etwas Ähnliches wie ein Kaufhaus 2.0 aufziehen", erinnert sich Möller – und er war sich sicher, dass dies scheitern würde: "Kaufhaus, das geht heute selbst in einer Großstadt nicht mehr." Zu dieser Schlussfolgerung sind auch die Verantwortlichen im rund 60 Kilometer entfernten Hanau vor einigen Monaten gekommen. Dort muss für den ehemaligen Kaufhof am Marktplatz, den man gekauft hat, eine neue Nutzung gefunden werden. Bei allen Unterschieden von Hanau und Schlüchtern gibt es eine Gemeinsamkeit: Beide Kommunen schalten sich aktiv in die Stadtentwicklung ein.

Möller, von Haus aus Vertriebler, hat sich intensiv mit dem Thema Einzelhandel befasst. Gerade für kleinere Städte fällt seine Prognose zurückhaltend aus: "Amazon ist heute der Markt." Mit der Produktvielfalt und -tiefe könne ein Ladengeschäft nicht konkurrieren. In 24 Stunden bekomme man genau das geliefert, was man wolle, ohne Parkplatzsuche und das Risiko, die passende Handtasche dann doch nicht zu finden.

Kommunen müssen selbst tätig werden

Wenn Einkaufen zum Event werde, hochpreisig mit exzellentem Service, dann könne das funktionieren, aber der klassische Warenhandel werde verschwinden, prophezeit der Bürgermeister. Die Pandemie habe dabei noch als Beschleuniger gewirkt: Die Menschen hätten gemerkt, dass man auch aus dem Homeoffice heraus oder spätabends einkaufen könne.

Möller ist überzeugt, dass daher ein Paradigmenwechsel erfolgen wird, "Stadtentwicklung muss sich ändern". Man werde Leerstände nicht gleichwertig kompensieren können, und die Kommunen müssten selbst tätig werden: "Kaufen wir Langer oder nicht?" Möller war dafür: Für 2,65 Millionen Euro gingen Grundstück und Gebäude an die Stadt. Eine Entscheidung, die in der Verwaltung, in der Politik und in der Stadt für Aufsehen sorgte.

Der Bürgermeister berichtet von seinem Einkauf beim Bäcker am Tag nach der Bekanntgabe des Kaufs. Eine andere Kundin sprach ihn an: Ihre Formulierung war höflicher, aber im Kern erkundigte sie sich bei Möller, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Vielen schien der Kauf eine Nummer zu groß für Schlüchtern. Aber vieles sprach für die Entscheidung – auch der Blick in das nahe Gelnhausen: Seit 2013 steht dort das ebenfalls traditionsreiche Kaufhaus Joh leer, erst spät entschied sich die Stadt dafür, dort ein neues Quartier entstehen zu lassen.

Den Wandel bis in die Architektur hinein mitdenken

Die nächste Weichenstellung fiel Möller leichter, auch wenn es dagegen Widerstand in der Stadt gab: Das alte Kaufhaus musste fallen. Allein schon die energetische Sanierung war faktisch unmöglich, zeitgemäße Anforderungen an den Bau ließen sich nicht erfüllen. Der Abbruch schafft dagegen Platz für eine laut Möller "innovative Entwicklung": Flächen werden entsiegelt, ein Park entsteht, neben dem Kultur- und Begegnungszentrum, dass im Oktober komplett geöffnet wird, entstehen Häuser mit Wohnungen, Läden und Gastronomie.

Bis in die Architektur hinein muss nach Möllers Überzeugung der Wandel mitgedacht werden: Wenn heute ein Ladengeschäft gebaut werde, dann müssten die Räume so geplant sein, dass man später dort auch Büros oder eine Wohnung einrichten könne.

Drei Dinge braucht man seiner Meinung nach für die Transformation der Innenstädte: Neue Konzepte, kreative Menschen "und viel Geld". Das Kultur- und Begegnungszentrum zum Beispiel, "Kube" genannt, schlägt mit 12,3 Millionen Euro zu Buche, ohne Zuschüsse könnte Schlüchtern ein solches Vorhaben nicht stemmen. Die Suche nach Unterstützung hat sich gelohnt, der Anteil der Kommune ließ sich auf gut drei Millionen Euro drücken.

Mittlerweile verfüge man in der Stadt auch über die nötigen Strukturen, um solche Vorhaben bewältigen zu können, sagt Möller und nennt die neu gegründete Stadtentwicklungsgesellschaft als Beispiel. Mit dem Kulturzentrum ist ein Drittel der Fläche des früheren Kaufhauses gebaut, die übrigen Gebäude sollen bis 2026 stehen.

Aber es ist nicht das einzige Vorhaben, mit dem der Bürgermeister dafür sorgen will, dass es in Schlüchtern belebt bleibt. Auch der Stadtplatz direkt am Rathaus ist einladend umgebaut worden, und das Areal wird gut angenommen. Wenn der Einzelhandel nicht mehr für die Anziehungskraft der Innenstadt sorgt, dann müssen nach Möllers Ansicht andere Wege gefunden werden: Gastronomie zum Beispiel oder eben Treffpunkte wie das Begegnungszentrum.

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Ein Neubau für die Sparkasse ist schon erledigt, die Entwicklung eines ehemaligen Betriebsgeländes an der Kinzig zu einem Gebiet mit Wohnungen und einem Schulungszentrum kommt voran. Die Sparkasse sitzt schon in einem Neubau, und auch die prächtige, frühere Synagoge wird saniert. Ein weiteres Projekt: Pop-up-Stores und Räume für Jugendliche in einem ehemaligen Gebäude der VR-Bank. Dafür gab es einen Preis beim hessischen Wettbewerb "Ab in die Mitte" und 15.000 Euro. Und Möller hat einen schnittigen Namen gefunden: "Kaufhaus des Bergwinkels".  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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