Die namenlose Frau vor dem Mikrofon schluckt. Es ist still. Alle Augen sind auf sie gerichtet, auf die "Zeugin".
Es sind die Augen der Angeklagten, des Staatsanwalts und des Richters. Sie wollen von ihr eine Antwort hören. Aber die Zeugin kriegt kein Wort heraus, ihr Kiefer zittert. An welche Versuche an Frauen sie sich erinnern könne, will der Richter noch einmal wissen.
Irgendwann, nach quälenden Minuten oder sind es doch nur ewig lange Sekunden, bricht sie ihr Schweigen und beginnt zu erzählen. Von Versuchen an Frauen, die im KZ Auschwitz gefangen waren. Von Zwangssterilisierungen, von künstlichen Befruchtungen, denen bei Schwangerschaft ein Abort folgte, teilweise im siebten Monat. Von zementartigen Stoffen, die Frauen in die Gebärmutter gespritzt wurden, um die Eierstöcke zu verkleben.
Diese Szene ist ein Auszug aus dem Film "Die Ermittlung". Am 27. Januar 2025, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und dem 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, läuft der Film auf Arte, in der ARD-Mediathek und auf Sky. Der Film, der auf dem bekannten, gleichnamigen Theaterstück von Peter Weiß von 1965 basiert, thematisiert den sogenannten ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963 bis 1965). Der Schriftsteller Weiß war in Teilen des Prozesses selbst anwesend und setzte das, was er gehört und gesehen hatte, für die Bühne um. Inhaltlich künstlerisch zwar verfremdet, aber in der Sache dennoch wahr und nah dran an realen Ereignissen und Personen aus Auschwitz.
Leverkusen: Bayer AG fördert Projekte
Die Hans und Berthold Finkelstein Stiftung der Bayer AG fördert dafür das "gehörige Bildungsmaterial und die Website", wie es von der Stiftung selbst heißt. Die Stiftung hatte Bayer vor zwei Jahren gegründet, um sich mit der eigenen, unrühmlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen, "insbesondere zum Thema NS-Zwangsarbeit und der I.G. Farben". Seitdem unterstützt die Stiftung Forschungs- und Erinnerungsprojekte zu diesem Thema.
So wie den Film "Die Ermittlung". Am Donnerstagnachmittag waren dessen Produzent Alexander van Dülmen, Historikerin Dr. Sara Berger vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt, der mitwirkende Schauspieler Thomas Meinhardt und Heike Hausfeld, Vorsitzende des Bayer-Betriebsrats und Aufsichtsratsmitglied, ins Bayer-Kasino zu einem "Screening" gekommen. Also zum gemeinsamen Schauen von Auszügen aus "Die Ermittlung", inklusive historischer Einordnung und Diskussion über das Gesehene.
Und vor allem darüber, welche Rolle die I.G. Farben damals gespielt hatte. 1925 war das Chemieunternehmen aus einer Fusion von mehreren Unternehmen hervorgegangen, unter anderem von Bayer. Und 1952, also nach dem Zweiten Weltkrieg, ging aus der I.G. Farben unter anderem die heutige Bayer AG hervor.
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erbe, damit, was die I.G. Farben und deren Verantwortlich in der NS-Zeit getan haben, hat der Chemieriese jahrzehntelang gescheut. Erst seit Gründung der Finkelstein-Stiftung passiert das. "Das ist auch nicht von jetzt auf gleich passiert", gab Rüdiger Borstel, ehemaliger Unternehmenshistoriker bei Bayer, im Bayer-Kasino an. Die Historiker des Unternehmens hätten schon lange darauf gedrängt, sich damit auseinanderzusetzen. "Wir wurden aber geblockt", sagte er.
Das habe unter anderem daran gelegen, dass die Rechtsabteilung Angst gehabt habe wegen möglicher Regressansprüche, auch die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, die das Unternehmen natürlich positiv erscheinen lassen wolle, sei nicht unbedingt dafür gewesen. Aber irgendwann sei "der Druck so stark geworden", dass es zur Auseinandersetzung kam. Dass man mehr machen wollte, als darüber nur "in schönen Reden von Vorstandsvorsitzenden zu hören". Und jetzt könne man nicht mehr zurück, freute sich Borstel. Es gebe keine geheimen Papiere mehr, alles sei öffentlich.
Hunderttausende Menschen kamen ums Leben
Von einem "Befreiungsschlag" in dieser Hinsicht sprach auch Heike Hausfeld. Auch für die Beschäftigten sei das wichtig gewesen. Denn auch wenn man in einem so großen Konzern häufig in Zahlen denke, müssen man dahinter schauen. "Wir müssen uns fragen: Was ist unser Kompass", sagte die Betriebsratsvorsitzende. Und das sei eine Daueraufgabe.
Die I.G. Farben hatte ab 1941 direkt am KZ Auschwitz eine Fabrik zur Herstellung von synthetischem Kautschuk (Buna) errichtet. Der Stoff war wichtig für die Kriegswirtschaft. Für den Bau setzte das Unternehmen auch KZ-Häftlinge aus Auschwitz ein, ebenso Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Ab 1942 baute die I.G. Farben in Kooperation mit dem NS-Regime das KZ Buna-Monowitz. Wessen Arbeitskraft nachließ, kam ins KZ Auschwitz-Birkenau.
Zwischen 25.000 und 30.000 Häftlinge seien in Buna-Monowitz alleine auf der Baustelle ums Leben gekommen, sagte Sara Berger. Die Werksleitung sei unmittelbar verantwortlich gewesen für den Austausch von arbeitsfähigen und nicht arbeitsfähigen Menschen, die dann in aller Regel im KZ ermordet wurden. Weitere Hunderttausende Juden, politische Gefangene, sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma sowie weitere Menschen starben in den folgenden Jahren im Lager der I.G. Farben.
Auch wenn im Film keine Namen genannt werden, lehnen sich bestimmte Figuren klar an reale Personen an. Zum Beispiel der von Thomas Meinhardt dargestellte Carl Krauch, Manager bei den I.G. Farben. "Ich hatte nur meine Pflicht zu tun", sagt der im Film-Prozess. Ein Satz, wie er unzählige Male bei den Befragungen der Angeklagten zu hören ist.
Von Massentötungen sei ihm "nichts bekannt gewesen", sagt der Robert Mulka im Film, SS-Hauptsturmführer und Adjutant des Lagerkommandanten Rudolf Höß. Es sei ein Straflager gewesen, "da waren die Leute nicht zur Erholung". Die Angeklagten lachen. Und noch mal: "Ich konnte davon nichts wissen". Mulka wurde im Prozess wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 750 Menschen zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Neun Jahre bekam der rumänische Apotheker Victor Capesius. Er leitete zuerst die Lagerapotheke im KZ Dachau, dann in Auschwitz. Er war unter anderem für das Beschaffen und fürs Anwenden des Gifts Zyklon B zuständig. Produziert hatte das Gift die Firma Degesch, an der die I.G. Farben beteiligt war.
"Die I.G. Farben spielt im Auschwitz-Prozess eine wichtige Rolle", ordnete im Bayer-Kasino Sara Berger ein. Sieben Vorstandsmitglieder wie Krauch und andere Angestellte sagten aus. Schon in den sechsten Nürnberger Nachfolgeprozessen hätten 24 Manager des Konzerns vor Gericht gestanden. Zehn von ihnen seien freigesprochen worden. In den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozessen gab es 22 Angeklagte, 385 Zeugen wurden gehört. 17 Angeklagte wurden verurteilt, drei wurden freigesprochen.
Die Strafen seien aber recht mild ausgefallen, sagte Berger. Das habe daran gelegen, dass sie nicht wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", sondern wegen Mordes oder gemeinschaftlichen Mordes in einem zivilen Strafprozess angeklagt worden seien. © Kölner Stadt-Anzeiger
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