Koblenz - Jürgen Michel läuft mit einem anderen Blick durch die Stadt: Er schaut in dunkle Ecken und Hauseingänge, scannt die Einkaufszentren und sucht Unterführungen ab.
Der Streetworker vom Verein Schachtel e.V. weiß, an welchen Orten sich Menschen aufhalten, die auf der Straße leben.
Seine Tour mit dem Kältebus startet in der Innenstadt von Koblenz. An diesem verregneten Montagabend trifft er hier auf niemanden, der seine Hilfe braucht. Mit dem kleinen Bus geht es weiter, weg von der Innenstadt, in einen etwas entlegeneren Bezirk von Koblenz. Hier wartet schon eine Frau auf ihn.
"Immer wieder warmes Essen, das ist Sicherheit"
Auf einem Betonplatz direkt neben einem kleinen Parkplatz in einem Wohngebiet hat Sonja ihr Lager aufgeschlagen. Eingepackt in zwei dicke Schlafsäcke liegt sie auf einer Isomatte, um sie herum unzählige Papp- und Plastiktüten. Nur ein dünnes Wellblechdach schützt sie vor dem Regen. Sie hat schon auf Michel gewartet.
"Das ist spitze", sagt sie zur Arbeit des Vereins. "Also wenn ich die Schachtel nicht hätte, wäre ich schon lange geliefert. Es ist auch beruhigend: Immer wieder warmes Essen, das ist Sicherheit."
Michel kennt sie seit sechs oder sieben Jahren, sagt er. Gegessen hat die 47-Jährige an diesem Abend schon. Über den warmen Kaffee und das kurze Gespräch freut sie sich. Während Michel ihr den Kaffee aus dem Kofferraum des Busses holt, fällt der Regen auf das dünne Dach, unter dem Sonja liegt.
Das Leben auf der Straße sei nicht einfach, sagt sie. "Es ist alles Kampf." Dennoch habe sie einige nette Leute kennengelernt. "Ich habe trotzdem noch Nettigkeit und Höflichkeit erlebt, auch wenn es selten ist."
Streetworker: Frauen eher Übergriffen ausgesetzt
Früher sei Sonja oft am Hauptbahnhof gewesen, sagt Michel. "Als Frau ist es vielleicht auch ganz gut, woanders hinzugehen", sagt er. Seiner Meinung nach sind Frauen auf der Straße besonders gefährdet.
"Deswegen versuchen Frauen, entweder gar nicht aufzufallen", sagt er. Sie würden sich dann schminken oder so aussehen, als würden sie zur Arbeit gehen. "Oder sie sind besonders verwahrlost. Das ist so die zweite Taktik. Weil Frauen schon eher Übergriffen ausgesetzt sind." Dennoch gebe es deutlich mehr obdachlose Männer als Frauen, sagt er. "Etwa im Verhältnis 3:1." Er schätzt die Zahl der Obdachlosen allein in Koblenz auf rund 500.
"Karneval lass' ich mir nicht nehmen"
Michel weiß, an welchen Orten sich die Menschen aufhalten – ob entlegen am Rhein oder mittendrin am Bahnhof. Hier trifft er in einem Fast-Food-Restaurant auf einen altbekannten Mann. Er kommt freudig mit zum Auto, um sich warmen Eintopf abzuholen. Dabei erzählt er von seinem gebrochenen Arm und den Schmerzen. Aber auch von seiner Leidenschaft für Musik. Mit Blick auf den schmerzenden Arm sagt er: "Karneval lass' ich mir nicht nehmen."
Soziale Bindungen seien entscheidend, wenn es darum gehe, ob jemand auf der Straße lande, erklärt der Streetworker. Wenn kein soziales Netz vorhanden sei, werde es ungemein schwierig. Gründe für Wohnungslosigkeit gebe es viele: den Tod, Verlust oder die Trennung von einem Partner oder einer Partnerin, Probleme am Arbeitsplatz, Suchterkrankungen. "Was uns auffällt, ist, dass psychische Erkrankungen zunehmend sind", sagt er. "Das ist ganz deutlich."
Michel und sein Kollege würden im Winter gerne noch öfter mit dem Kältebus fahren, um die Menschen zu versorgen. "Die Arbeiten im Büro werden aber immer mehr", sagt er. Zweimal pro Woche schafften sie es. Im Gepäck sind dann neben Essen und Trinken auch Schlafsäcke und Decken.
Tod von Obdachlosem – "Man kann's nicht abschütteln"
Seit 1999 arbeitet Michel als Streetworker, im Zweitjob ist er Vermessungstechniker. Die Abwechslung brauche er, sagt er. Um den Stress vom Job auf der Straße nicht mit nach Hause zu nehmen, mache er viel Sport.
Doch manche Erlebnisse lassen auch den 60-Jährigen nicht so schnell los. Erst diesen Winter starb ein Obdachloser in der Innenstadt. Kurz vor Silvester wurde er leblos aufgefunden. "Teilweise kennst du die Menschen gut, jahrelang", sagt er. "Wir sind Menschen, sie sind Menschen. Man kann's nicht abschütteln, aber man lernt, damit umzugehen. Man kann nicht alles mit heimnehmen."
"Die größte Herausforderung ist momentan die Kälte"
Neben den schweren Momenten gibt es aber auch schöne. Auch an diesem Abend hat Michel ein kleines Erfolgserlebnis. Auf mehreren Touren hat er in den vergangenen Wochen einen Schlafplatz gesehen, der für ihn neu war. Doch bislang konnte er niemanden antreffen. An diesem Montag ist der Mann da, als Michel mit dem Kältebus anhält. Der Streetworker stellt sich vor.
Gerald erschreckt sich kurz, freut sich dann aber über das Angebot. Er liegt auf dem Bürgersteig, nur durch einen kleinen Mauerbogen getrennt von der Straße. Der Wind zieht, die Busse vom nahegelegenen Bahnhof rattern vorbei. Es ist laut und ungemütlich. "Die größte Herausforderung ist momentan die Kälte. Der Wind ist schon doll", sagt der 53-Jährige im Pfälzer Dialekt.
"Ich würde gerne wieder arbeiten gehen"
Er erzählt, dass er während der Corona-Pandemie arbeitslos geworden sei. Außerdem habe er "Zoff" mit der Vermieterin gehabt. "Es waren so drei oder vier Wochen, wo alles zusammenkam", sagt er. Seit drei Monaten sei er jetzt wohnungslos – zum ersten Mal in seinem Leben. Michel reicht ihm Eintopf, Kaffee und ein paar Zuckertütchen. Er ist beruhigt, als Gerald erzählt, dass er tagsüber zur Caritas gehe. Ab sofort ist er auch Teil der Kältebus-Tour.
Er sei extra nach Koblenz gekommen, weil er sich in einer größeren Stadt etwas mehr Unterstützung und Gesellschaft erhofft habe, sagt Gerald. Es sei schwierig, eine WG oder eine Wohnung zu finden. "Ich würde gerne wieder arbeiten gehen und würde gerne wieder normal leben."
Den Wunsch von Sonja und Gerald, wieder ein Leben mit Wohnung und Job zu führen, teilten viele Obdachlose, sagt Michel. Auch wenn manche zunächst etwas anderes sagen würden, käme das im Gespräch immer raus. "Sie wollen fast alle wieder in das langweilige Leben mit Couch und Kegelabend." © Deutsche Presse-Agentur
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.