Kein Spieltag ohne Aufregung über die Video-Assistenten – diesmal auf Schalke und in Köln. Das ist verständlich, aber auch ein Ausdruck von zu hohen Erwartungen. Nüchtern betrachtet ist bislang nicht viel passiert, womit nicht zu rechnen war. Es wird Zeit, die Debatte zu versachlichen.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Meine Meinung

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Derzeit liest und hört man, wenn es um das allgegenwärtige Thema Videobeweis geht, häufig das Wort "gefühlt".

Gefühlt greife der Video-Assistent zu häufig ein, heißt es oft. Gefühlt sei das Spiel deshalb zu lange unterbrochen. Gefühlt gebe es keine klare Linie bei den Interventionen. Gefühlt machten die Video-Assistenten viel zu viele Fehler. Gefühlt sei der Fußball gar nicht gerechter geworden.

Es sind viele Emotionen in der Diskussion über diese Neuerung, die Debatte ist heiß gelaufen, es vergeht kein Spieltag, an dem das Thema Videobeweis nicht im Zentrum steht.

Es gibt offenbar einen großen Unterschied zwischen den Erwartungen an die Video-Assistenten und der Praxis in der Bundesliga. Diese Praxis wird derzeit heftig kritisiert. Dabei wäre es an der Zeit, auch einmal die Erwartungen zu hinterfragen und sich an Fakten zu orientieren.

Zahl der Korrekturen liegt im Rahmen

Was sich in dieser Hinsicht problemlos feststellen lässt, ist die Zahl der Entscheidungen, die aufgrund von Eingriffen der Video-Assistenten geändert wurden.

Bislang wurden fünf Strafstöße gegeben, die ohne Intervention aus der Zentrale in Köln nicht verhängt worden wären. Umgekehrt wurden zwei Elfmeterentscheidungen zurückgenommen. Zwei Tore wurden annulliert, ein aberkannter Treffer wurde für gültig erklärt. Außerdem gab es eine Rote Karte, ohne den Video-Assistenten hätte es nur Gelb gegeben.

Das sind elf Korrekturen in 45 Spielen. Hochgerechnet auf die gesamte Saison wären das 75 Änderungen. Laut Hellmut Krug, dem Projektleiter Videobeweis beim DFB, hätten die Video-Assistenten in der vergangenen Spielzeit 77 klare Fehler der Schiedsrichter verhindert.

Gemessen daran liegt die Zahl der Eingriffe bislang also zumindest im Rahmen dessen, was die Schiedsrichter-Kommission des DFB erwartet und gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert hat.

Prüfung beim kleinsten Verdacht

Natürlich: Die blanken Zahlen sagen nichts darüber aus, ob diese Interventionen tatsächlich berechtigt waren. Und sie schließen auch nicht die Fälle ein, in denen ein Berichtigungsvorschlag des Video-Assistenten erforderlich gewesen wäre.

Aber sie spiegeln die Praxis wider, und in der mussten sich die Unparteiischen zumindest bislang nicht häufiger korrigieren lassen, als anzunehmen war.

Wenn viele dennoch den Eindruck haben, dass sich die Video-Assistenten zu oft einmischen, dann hat das einen einfachen Grund: Sie prüfen jede Szene, in der auch nur entfernt der Verdacht besteht, dass etwas passiert sein könnte, das ihr Einschreiten erforderlich macht.

Das geschieht meist, während der Ball noch im Spiel ist, weshalb es niemand mitbekommt. Ist die Partie aber unterbrochen und ein Check läuft noch, muss der Referee die Spielfortsetzung verzögern.

Denn er muss abwarten, ob aus Köln ein Korrekturvorschlag unterbreitet wird. Schließlich darf er seine Entscheidung nicht mehr ändern, sobald der Ball wieder rollt.

Checks dauern nicht länger als angekündigt

Diese Verzögerungen – zu denen es vor allem nach Toren und Strafraumsituationen kommt – werden von vielen ebenfalls als Eingriffe empfunden. Dabei bestätigt der Video-Assistent in den weitaus meisten Fällen lediglich das, was der Schiedsrichter auf dem Feld entschieden hat.

Überdies dauerten diese Unterbrechungen bislang nur ausnahmsweise länger als die 40 Sekunden, die Hellmut Krug vor der Saison als Obergrenze versprochen hatte. Auch hier bewegt sich die Realität also im Rahmen des Erwarteten.

Ein Ausufern der Einmischungen durch die Helfer vor den Monitoren ist, nüchtern betrachtet, nicht festzustellen, weder hinsichtlich der Häufigkeit noch in Bezug auf die Dauer der Prüfungen.

Streitfrage "klarer Fehler"

Doch was ist mit der besonders heftig diskutierten Frage, wann die Video-Assistenten nun die Änderung einer Entscheidung vorschlagen und wann nicht?

Sie sollen es nur bei klaren Fehlern tun, die den Unparteiischen im Zusammenhang mit der Beurteilung von Elfmetersituationen, Platzverweisen, Torerzielungen und Spielerverwechslungen unterlaufen.

Und da zeigt sich – was nicht überraschend kommt –, dass längst nicht immer unstrittig ist, wann ein solcher klarer Fehler vorliegt.

Die Schiedsrichter-Kommission des DFB hatte in der vergangenen Saison in Zusammenarbeit mit den Referees versucht, anhand zahlreicher Beispielszenen möglichst eindeutige Abgrenzungen vorzunehmen.

Der Ernstfall ist etwas anderes als die Theorie

Doch theoretische Übungen und Live-Tests mit eigens arrangierten Spielen ohne Zuschauer sind etwas anderes als der Ernstfall.

Und dies umso mehr, als nun Spieler, Trainer, Fans und die Öffentlichkeit auf die Auslegungs- und Anwendungspraxis reagieren und ihre Meinungen dazu äußern. Von einer solchen Resonanz bleiben die Schiedsrichter und Video-Assistenten natürlich nicht unberührt. Schließlich geht es auch um die Akzeptanz der Umsetzung des Videobeweises.

Das heißt: Die Definition, wann eine klare und damit korrekturbedürftige Fehlentscheidung des Unparteiischen vorliegt, wird derzeit während des laufenden Spielbetriebs der Bundesliga nachjustiert. Auch und nicht zuletzt anhand von strittigen Fällen und von Fehlern, die den Video-Assistenten unterlaufen.

Umstrittener Elfmeter für Frankfurt

So gab es beispielsweise im Spiel des 1. FC Köln gegen Eintracht Frankfurt (0:1) am Mittwochabend in der ersten Hälfte gleich drei Situationen, in denen ein Eingriff des Video-Assistenten Wolfgang Stark in Betracht kam, aber nicht erfolgte – was für lautstarke Kritik sorgte.

Zunächst in der 21. Minute, als der Kölner Torwart Timo Horn im Strafraum gegen Mijat Gacinovic grätschte und dabei den Ball spielte, bevor er den Frankfurter am Fuß traf. Schiedsrichter Martin Petersen entschied bei seinem Bundesliga-Debüt auf Strafstoß, Stark kam bei seiner Prüfung zu dem Schluss, dass das jedenfalls keine eindeutige Fehlentscheidung war.

Unmöglich fanden das die einen, schließlich habe Horn zuerst deutlich den Ball getroffen. Für nachvollziehbar hielten das andere, die darauf verwiesen, dass Horn mit viel Einsatz in den Zweikampf gegangen war und dabei eben auch einen Gegner zu Fall gebracht hatte.

Heintz wie Aranguiz im Eröffnungsspiel

Kurz nach dem verwandelten Elfmeter riss der Kölner Verteidiger Dominique Heintz nach einer Flanke den Frankfurter Sebastian Haller im Strafraum an der Schulter zu Boden. Petersen ließ weiterspielen, Stark schritt auch diesmal nicht ein.

Dabei ähnelte die Szene stark dem Foulspiel von Charles Aranguiz an Robert Lewandowski im Eröffnungsspiel dieser Saison zwischen dem FC Bayern München und Bayer 04 Leverkusen. Auch damals hatte der Schiedsrichter nicht gepfiffen, bevor er – zu Recht – auf Anraten des Video-Assistenten doch noch einen Strafstoß verhängte.

Auch Köln fordert einen Strafstoß

Nach 33 Minuten sprang schließlich der Frankfurter Abwehrspieler Simon Falette im Strafraum dem Kölner Leonardo Bittencourt von hinten ins Kreuz.

Ein übertriebener Körpereinsatz, bei dem Falette kaum bis gar kein Interesse am heranfliegenden Ball zeigte, den er mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht hätte spielen können. Erneut winkte der Schiedsrichter ab und erhielt von seinem Video-Assistenten auch keine gegenteilige Empfehlung.

Dreimal also hielt sich Wolfgang Stark zurück, dabei gab es zumindest in den Fällen zwei und drei eigentlich kaum Argumente, die für die Entscheidung des Referees auf dem Feld sprachen.

Schalke klagt über Regelauslegung beim Handspiel

Am Abend zuvor hatten sich auch die Schalker nach dem Spiel gegen den FC Bayern (0:3) vehement über den Video-Assistenten beklagt, weil dieser dem Unparteiischen Marco Fritz mitgeteilt hatte, dass das Handspiel von Naldo im eigenen Strafraum als strafbar zu bewerten sei. Fritz hatte ursprünglich auf Eckstoß entschieden, gab dann aber schließlich doch einen Elfmeter.

Schalke machte geltend, Naldo sei der Ball von einem anderem Körperteil, nämlich seinem Fuß, an den Arm gesprungen. Und das sei, so hätten sie es jedenfalls in einer Schulung durch den DFB gelernt, ein klares Indiz dafür, dass keine Absicht vorliegt.

Die Schalker verwiesen dabei auf eine ihrer Ansicht nach nahezu identische Situation in ihrem Spiel bei Hannover 96 am zweiten Spieltag. Damals war dem Hannoveraner Salif Sané der Ball ebenfalls vom Fuß an den erhobenen Arm gelangt, es gab jedoch keinen Elfmeter und keine Intervention des Video-Assistenten.

Krug erläutert Unterschiede

Hellmut Krug bemühte sich in einem Interview der "Sportschau", den Unterschied zwischen beiden Fällen zu erläutern, Dieser liege vor allem in der Armhaltung beider Spieler.

Sané habe seinen Arm, mit dem er das Handspiel beging, "doch noch relativ nah am Köper" gehabt, Naldo dagegen bei seiner Grätsche "beide Arme deutlich über Kopfhöhe" gehalten, "fast in Torwartmanier", sagte Krug.

Das sei "ohne jede Frage" eine "unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche" und damit auch dann strafbar, wenn der Ball von einem anderen Körperteil an den Arm springt.

Deshalb sei das Einschreiten des Video-Assistenten in diesem Fall richtig gewesen und dessen Zurückhaltung beim Handspiel von Sané zumindest akzeptabel. Eine Erklärung, die nachvollziehbar ist, aber auch einen Maßstab setzt, an der künftige vergleichbare Situationen gemessen werden müssen.

Gerade beim Thema Handspiel ist es seit geraumer Zeit jedoch alles andere als einfach, zu einer einigermaßen einheitlichen Linie bei der Beurteilung der Strafbarkeit zu finden. Nun muss auch noch der Video-Assistent unter Zeitdruck entscheiden, wann sein Eingriff notwendig ist und wann nicht.

Work in progress

Insgesamt gibt es beim Videobeweis ohne Zweifel noch eine ganze Menge zu tun, nachzubessern und zu klären. In gewisser Weise ist er "work in progress" – und eben auch ein Test, über dessen Ergebnis erst Mitte 2018 entschieden werden wird.

Als solcher wurde er zwar angekündigt, doch die Ungeduld ist so überbordend, wie es die Erwartungen sind. Gerade die Verständigung darauf, was als klarer Fehler anzusehen ist, kann aber nicht nur in der Theorie und nicht nur in bedeutungslosen Testspielen geschehen.

Sie erfolgt zwangsläufig auch und vor allem in der Praxis, dem Ligaalltag. Dieser Alltag läuft seit gerade mal fünf Spieltagen. Alle Beteiligten wären deshalb gut beraten, einen Gang zurückzuschalten, statt die Debatten weiter anzuheizen.

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