Nicht nur wegen der schweren Verletzung von Lena Oberdorf ist in der Hierarchie der DFB-Frauen vor dem Start ins olympische Fußballturnier am Donnerstag einiges in Bewegung geraten. Mehrere junge Spielerinnen drängen in größere Rollen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Christian Stüwe sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Als die Frauen-Nationalmannschaft des DFB 2016 in Rio de Janeiro die Goldmedaille gewann, verfolgte Kathrin Hendrich das Turnier von der Bank aus. Die Abwehrspielerin des VfL Wolfsburg war als Ersatzspielerin mit nach Brasilien zu den Olympischen Spielen gereist, zum Einsatz kam sie nicht.

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Acht Jahre später ist sie eine der Führungsspielerinnen der DFB-Frauen, die am Donnerstag in Marseille gegen Australien (19 Uhr) in das olympische Fußballturnier starten.

"Meine Rolle ist eine andere als damals 2016. Damals habe ich mich einfach nur gefreut, dass ich dabei sein darf", erklärte die 32-Jährige dementsprechend: "Ich konnte das Turnier aus einer ganz anderen Perspektive verfolgen und kann jetzt den jüngeren Spielerinnen davon erzählen. Jetzt ist es für mich persönlich ein ganz anderes Gefühl. Weil ich zu den Älteren gehöre und in einer anderen Rolle bin."

Die Wolfsburgerin ist längst ein Eckpfeiler in der Abwehr von Trainer Horst Hrubesch. Hendrich spielt eigentlich immer, sie erledigt ihren Job unaufgeregt und zuverlässig. Im Idealfall bildet sie wie beim VfL Wolfsburg mit Marina Hegering eine eingespielte Innenverteidigung. Auch die 34-Jährige Hegering ist eine Leaderin im Team, kann aufgrund ihrer Verletzungsanfälligkeit ihre Führungsqualitäten aber nicht immer auf den Platz bringen.

Giulia Gwinn könnte Alex Popp als Kapitänin beerben

Der Kopf der Mannschaft ist mit Kapitänin Alexandra Popp eine weitere Wolfsburgerin. Popp ist Aushängeschild und Wortführerin, neben Hendrich ist sie die zweite verbliebene Goldmedaillen-Gewinner im aktuellen Kader. Allerdings ist hinter der 33-jährigen Routinierin in der Hierarchie der DFB-Frauen einiges in Bewegung geraten. Jüngere Spielerinnen drängen auf und neben dem Platz in größere Rollen und wollen mehr Verantwortung übernehmen.

Ein Beispiel hierfür ist Giulia Gwinn. Als Popp zuletzt bei den EM-Qualifikationsspielen gegen Island und Österreich angeschlagen fehlte, führte die Rechtsverteidigerin des FC Bayern München das DFB-Team als Kapitänin auf den Platz. "Ich zeige vor allem mit meiner Körpersprache auf dem Platz, dass ich das Team mitführen und für uns als Gemeinschaft vorangehen möchte", untermauerte die 25-Jährige ihren gewachsenen Führungsanspruch im Interview mit der "FAZ".

Sportlich ist Gwinn ohnehin absolut gesetzt. Die enttäuschende Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr verpasste sie aufgrund eines Kreuzbandrisses, ohne sie war die Position hinten rechts eine Schwachstelle im deutschen Team.

Abseits des Platzes hat sich Gwinn längst zu einer der bekanntesten deutschen Spielerinnen entwickelt, sie hat die größte Reichweite in den sozialen Medien und ist eine begehrte Interviewpartnerin. Sollte Popps Karriere im DFB-Team in absehbarer Zeit enden, wäre Giulia Gwinn die logische Nachfolgerin als Kapitänin.

Wer ersetzt Lena Oberdorf?

Auch Lena Oberdorf könnte sicherlich in Popps Fußstapfen treten, zunächst einmal gilt es aber das Vakuum zu füllen, dass ihre im letzten Länderspiel gegen Österreich erlittene Kreuzband- und Innenbandverletzung im zentralen Mittelfeld hinterlassen hat.

Obwohl sie erst 22 Jahre alt ist, hat die in diesem Sommer zum FC Bayern München gewechselte Oberdorf bereits 51 Länderspiele absolviert. Sie ist eine absolute Führungsspielerin, die vorangeht und deren Präsenz auf dem Platz gegnerische Spielerinnen einschüchtert.

Um Oberdorfs Ausfall zu kompensieren, wäre es eine Option für Hrubesch, Popp zurück auf die Sechser-Position zu ziehen. Was wohl vor allem Jule Brand in der Offensive mehr Spielzeit verschaffen würde. Oder aber der Bundestrainer setzt im zentralen Mittelfeld auf Spielerinnen, die im DFB-Team bisher noch keine tragenden Rollen einnahmen.

Sjoeke Nüsken scheint bereit für eine größere Rolle

Eine Kandidatin dafür wäre Janina Minge, die Wolfsburgerin wurde für Oberdorf nachnominiert. Oder die zuletzt stark aufspielende Elisa Senß von Eintracht Frankfurt. Gute Argumente gibt es allerdings auch für Sjoeke Nüsken. Die 23-Jährige hat nach ihrem Wechsel von Frankfurt zum FC Chelsea im vergangenen Sommer nochmal einen großen Schritt nach vorne gemacht und scheint bereit, auch im DFB-Team eine Führungsrolle zu übernehmen.

"Das erste Spiel in so einem Turnier ist absolut wichtig. Dass man von Anfang an da ist und die Zweikämpfe annimmt. Um ein gutes Gefühl für das Turnier zu bekommen", gab Nüsken mit Blick auf das Australien-Spiel schon einmal die Richtung vor.

Die vielseitige Nüsken lief in London unter anderem in der Sturmspitze und als Innenverteidigerin auf, am liebsten spielt sie aber im zentralen Mittelfeld, wo sie ihre defensiven und offensiven Qualitäten kombinieren kann. Sollte Hrubesch ihr das Vertrauen schenken, wäre das für Nüsken die Chance, zumindest bis zu Oberdorfs Rückkehr eine tonangebende Rolle im DFB-Team zu übernehmen.

Merle Frohms hat offenbar ihren Stammplatz verloren

Eine solche zentrale Position im Mannschaftsgefüge nahm in den letzten Jahren auch Merle Frohms ein, die als sicherer Rückhalt im Tor lautstark ihre Abwehr dirigierte und sich auch abseits des Platzes gerne zu Wort meldete.

Dass die 29-jährige Wolfsburgerin nun offenbar ihren Stammplatz an die vier Jahre ältere Ann-Katrin Berger verloren hat, ist durchaus überraschend. Aber auch ein weiterer Beleg dafür, dass bei den DFB-Frauen derzeit einiges in Bewegung ist.

Der Umbruch wird nach den Olympischen Spielen weitergehen, wenn Christian Wück als Bundestrainer auf Hrubesch folgt. Wück wird die Spiele in Frankreich von der Tribüne aus verfolgen und sicher ganz genau hinschauen, wer auf und abseits des Platzes den Ton angibt.

Verwendete Quellen:

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