Vor dem Start der Heim-EM wurde viel über Manuel Neuer und Ilkay Gündogan diskutiert. Olaf Thon aber sieht einen anderen vermeintlichen Leistungsträger kritisch. Zudem äußert sich der Weltmeister von 1990 zu den Favoriten auf den EM-Titel.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Olaf Thon dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Julian Nagelsmann hat keine Fehler gemacht. Er hat mit Manuel Neuer, mit Antonio Rüdiger, mit Ilkay Gündogan und mit Kai Havertz, der für mich als Mittelstürmer eine Überraschung ist, eine Achse gefunden. Man muss in der Mannschaft eine gewisse Stabilität haben.

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Manuel Neuer ist topfit und in Form. Flüchtigkeitsfehler wie gegen die Griechen passieren und sind menschlich. Sie dürfen ihm aber nicht zu oft passieren.

"Manuel Neuer muss die einfachen Fehler abstellen."

Olaf Thon zur Diskussion um die deutsche Nummer eins

Er muss sich der Kritik stellen und die einfachen Fehler abstellen. Einfach mal den Ball wegfausten. Er muss wissen, dass er nicht mehr der Schnellste ist. Die Reaktionszeit lässt im Alter nach. Für mich ist er aber auch bei diesem Turnier, wahrscheinlich letztmalig, die unumstrittene Nummer eins.

Bundestrainer Julian Nagelsmann im EM-Training mit Torwart Manuel Neuer
Mit Manuel Neuer (r.) als Nummer eins im Tor geht Bundestrainer Julian Nagelsmann (l.) in die Heim-EM 2024 - trotz Neuers Unsicherheiten im Halbfinale der Champions League, in der Bundesliga in hoffenheim und in den beiden abschließenden Testspielen gegen die Ukraine und Griechenland. (Archivbild) © picture alliance / Sven Simon /Frank Hoermann

Nagelsmann hat - nicht nur, was Neuer, sondern den gesamten Kader betrifft - alles richtig gemacht. Auch damit, den vierten Torhüter zu Hause zu lassen, einen Spieler mehr mitzunehmen und einen Feldspieler zum Kapitän zu machen. Das war ein Zeichen. Er kann Gündogan jetzt nicht einfach rauslassen. Und Kroos zurückzuholen, war eine sehr gute Entscheidung. Der Zusammenhalt in der Mannschaft ist da.

"An Joshua Kimmich stört mich seine Körpersprache."

Olaf Thon erwartet mehr von einem der Führungsspieler

An Joshua Kimmich stört mich seine Körpersprache. Das hat die Vorgeschichte, dass er aus dem Mittelfeld auf die rechte Seite zurückgesetzt wurde. Dort gefällt er mir aber gar nicht. Ich sehe keine Eins-gegen-eins-Aktionen von ihm, keine Flanken. Er könnte eine gegnerische Abwehr so aufreißen und gefährliche Aktionen kreieren.

Nagelsmann hat Gündogan zum Kapitän gemacht und Kroos zurückgeholt. Man spürt, dass das an Kimmich nagt. Er muss das aber ablegen und sich einordnen. Sonst ist er für die erste Elf nicht der richtige Mann.

DFB-Nationalspieler Joshua Kimmich im Testspiel gegen Griechenland
Joshua Kimmich steht am 7. Juni 2024 in Mönchengladbach gegen Griechenland zum 86. Mal für die deutsche A-Nationalmannschaft auf dem Platz und geht eine Woche darauf bereits in seine dritte EM. © picture alliance/dpa/Federico Gambarini

Wir haben den schwächsten Gegner zum Start, die Schotten (das EM-Auftaktspiel hier im Live-Ticker mitverfolgen). Ich würde mich aber schon freuen, wenn wir 1:0 gewinnen. Wichtig ist, erfolgreich ins Turnier zu starten. Die Ungarn sind unsere stärksten Gegner in der Gruppe, dann kommt die Schweiz und dann Schottland.

Es gibt die Erinnerung an die Heimturniere 1974, 1988 und 2006. Die Mannschaft will erfolgreich sein und sie fühlt, dass sie eine Bringschuld hat. Aber das war einmal. Das ist vorbei, weil wir 2018, 2021 und 2022 drei schlechte, richtig katastrophale Turniere hatten.

Das Feuer aus dem März ist schon wieder abgekühlt

Die Erwartung an die Mannschaft ist nicht so hoch, wie sie noch vor 20 Jahren war. Die Mehrzahl der Fans will natürlich den Titel sehen, aber sie sind auch realistisch. Spätestens nach den beiden Spielen gegen Griechenland und gegen die Ukraine ist wieder Realismus eingekehrt.

Das Feuer entflammte, als wir die Holländer und die Franzosen geschlagen haben. Aber das waren Vorbereitungsspiele, genauso wie die letzten beiden. Die darf man nicht zu ernst nehmen. Sie sind ein Fingerzeig, aber auch nicht mehr.

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Wir werden höchstwahrscheinlich den Titel nicht gewinnen. Wir sind krasser Außenseiter. Das Viertelfinale wäre nach den drei katastrophalen Turnieren zuletzt ein Erfolg.

Wie wir spielen, das ist kein Feuerwerk. Während des Turniers müssen große Leistungssteigerungen kommen, in allen Mannschaftsteilen. Unsere Talente Florian Wirtz und Jamal Musiala haben das gewisse Etwas. Aber ob sie es zeigen können? Dieses Turnier kommt für sie zu früh.

"Man darf Julian Nagelsmann nicht nur an diesem Turnier messen."

Olaf Thon erinnert an Franz Beckenbauers sechs Jahr bis zum WM-Titel

Diese EM aber kann für Nagelsmann nur der erste Schritt sein. Man darf ihn nicht nur an diesem Turnier messen. Franz Beckenbauer hat auch sechs Jahre gebraucht, bis er 1990 den WM-Titel gewonnen hat.

Die Kroaten lauern im Hintergrund

Für mich heißen die Titelfavoriten Portugal, Belgien, Frankreich, die Niederlande und Spanien. Mein Geheimfavorit ist Kroatien. Europameister zu werden, ist aber viel schwieriger, als Weltmeister zu werden.

Aufgezeichnet von Jörg Hausmann

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