Früher mussten sich deutsche Mannschaften noch vor unvorhersehbaren Trips nach Albanien, Nordirland oder Aserbaidschan fürchten. Heute gewinnt Deutschland diese Spiele fast im Vorbeigehen. Der Trend liest sich wie eine nie gekannte Dominanz. Er bringt aber auch einige Nachteile mit sich.

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Vielleicht muss man sich der Thematik auf einem anderen Weg nähern: Oliver Bierhoff ist am Wochenende mit einer Manöverkritik am modernen Fußball aufgefallen. Er fürchte eine Übersättigung der Fans und warne vor dem großen Knall, ähnlich wie bei der Bankenkrise damals.

Jeden Tag gibt es Fußball im Fernsehen, vom WM-Endspiel bis zum Regionalliga-Kick ist ja alles zu sehen. Die Verbände und Vereine stampfen einen Wettbewerb nach dem anderen aus dem Boden.

Insofern hat Bierhoff faktisch Recht mit dem, was er anprangert. Nur: Als Teammanager der Nationalmannschaft hat auch er einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Gemengelage. Bierhoff hat der Deutschen liebstes Kind durchkommerzialisiert. Die Bekanntheits- und Sympathiewerte der Auswahl nahe an die einhundert Prozent getrieben, Maskottchen ebenso erfunden wie einen Spitznamen.

Die Nachteile der Übersättigung

In den vergangenen zehn Jahren wurde eine Vielzahl an Sponsoren gewonnen, alles perfekt durchgestylt, die Ticketpreise schießen durch die Decke. Für das nächste Länderspiel in Nürnberg ruft der Deutsche Fußballbund Preise zwischen 25 und 80 Euro für die Karten auf. Der Gegner heißt San Marino. Er könnte aber auch Schottland, Serbien oder Aserbaidschan heißen. Das Ergebnis stünde trotzdem schon im Vorfeld fest.
Die deutsche Nationalmannschaft hat in der WM-Qualifikation fünf Siege in fünf Spielen eingefahren. Das ist angesichts der Gegner keine besonders spektakuläre Errungenschaft. Die Fans haben sich daran gewöhnt - und sich deshalb auch ein bisschen entwöhnt.

Beim Testspiel gegen England, im DFB-Jargon ein "Klassiker" genannt, blieben in Dortmund rund 20.000 Plätze frei. Obwohl es ja gleichzeitig auch das Abschiedsspiel von Lukas Podolski war. Und ohne die ganzen Kölner im Stadion wäre der Tempel wohl allenfalls zur Hälfte gefüllt gewesen.

Ein paar Monate zuvor durfte bereits Bastian Schweinsteiger in einem halbleeren Borussia Park in Mönchengladbach seine letzte Reise für den DFB antreten. Die Übersättigung, die hohen Eintrittspreise, das nervtötende Drumherum mit Gute-Laune-Programm und dem Fanclub Nationalmannschaft powered by einer koffeinhaltigen Limonade sind das eine. Der Fluch der guten Tat der Nationalmannschaft das andere.

Zu weit entfernt von "den Kleinen"

Es soll ja Zeiten gegeben haben, da reisten deutsche Teams ehrfurchtsvoll in entlegene Gebiete wie Albanien, Litauen, Island oder auf die Färöer. "Legendäre" Spiele wurden da gespielt, echte Grottenkicks. Es waren die Sternstunden des Rumpelfußballs und einmal, 1967, verpasste Deutschland auf einem Kartoffelacker in Tirana sogar die Qualifikation zu einer Europameisterschaft.

Heute fährt die Nationalmannschaft nach Baku und gewinnt klinisch präzise mit 4:1. Oder 3:0 oder 2:0. Aber sie gewinnt. Fast immer. Die Qualifikationsrunden zu großen Turnieren, die dann später ohnehin aufgebläht sind und doppelt so vielen Mannschaft wie früher Zutritt gewähren, verkommen bis auf eine oder vielleicht zwei Partien in zwei Jahren zu besseren Beschäftigungsmaßnahmen.

"Es gibt keine Kleinen mehr", lautet ein schmissiger Slogan, einst propagiert von Berti Vogts und stilecht gepflogen von Rudi Völler. Beide Trainer der Rumpel-Ära des DFB. Tatsächlich können mittlerweile Mannschaften bis runter zur Oberliga sauber und geschlossen verteidigen, das ist der eine Teil der Wahrheit.

Der andere ist: Die deutsche Nationalmannschaft hat sich in den letzten zehn Jahren so überragend entwickelt, dass die Kluft zwischen den Trendsettern wie Spanien, Frankreich, Deutschland oder Argentinien und den Mannschaften aus dem zweiten, dritten oder vierten Regal noch größer geworden zu sein scheint.

Haufenweise starke Spieler und Kontinuität

Deutschland hat so eine Bandbreite an überdurchschnittlich guten Spielern, dass damit locker zwei komplette Mannschaften gestellt werden könnten, die auch wettbewerbsfähig wären. Das gilt selbst für den Unterbau.

Als neulich der Test der U21 gegen England auf dem Programm stand, kam der deutsche Kader insgesamt auf weit über 1.000 Bundesligaspiele. Die Engländer, die zu Hause durch die immense Anzahl an überragenden ausländischen Spielern permanent ausgebremst werden, auf nicht einmal 300.

Dazu kommt eine stringente Spielphilosophie und, ganz wichtig, Kontinuität auf den entscheidenden Positionen im Verband. Keine andere wichtige Fußball-Nation wird seit mehr als einem Jahrzehnt vom selben Cheftrainer betreut.
Das alles macht die Zeiten zwischen den Turnieren für Joachim Löw so entspannt. Die Qualifikationsrunden sind gleichzeitig auch große Casting-Bühnen, mit Timo Werner gab gegen England der 87. Neuling unter Löw sein Debüt.

Deutschland kann es sich leisten, auf Wettbewerbsniveau neue Spieler und Taktiken zu testen. Das gewünschte Ergebnis wird in den meisten Fällen nebenbei dazu geliefert.

Keine ausschließlich positive Entwicklung

So richtig eng wird es für Deutschland eigentlich immer erst ab der Runde der letzten acht Mannschaften bei einem Endturnier, im Prinzip gibt es derzeit vielleicht vier oder fünf Teams, die der Nationalmannschaft in einem Pflichtspiel gefährlich werden könnten.

Heruntergebrochen auf das gute Dutzend an Spielen pro Kalenderjahr bedeutet das, dass wohl noch nie eine deutsche Nationalmannschaft so dominant und souverän unterwegs war wie derzeit.

Das wiederum mag den meisten Fans gefallen, schließlich gehen auch die Anhänger der Nationalmannschaft ins Stadion, um ihr Team siegen zu sehen. Wenn aber die Spielabläufe vorhersehbar werden und vielleicht sogar die Ergebnisse, dann ist das auf Dauer auch keine gute Entwicklung.

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