Vor fast 30 Jahren, am 8. Juli 1990, wurde Deutschland zum dritten Mal Fußball-Weltmeister. Franz Beckenbauer war damals Teamchef und hatte mit Spielern wie Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann, Andreas Brehme und Jürgen Kohler eine Top-Mannschaft zusammen. Der 105-malige Nationalspieler Kohler blickt mit uns auf die WM in Italien zurück.

Ein Interview

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Herr Kohler, war Ihnen bereits vor der Weltmeisterschaft 1990 bewusst, dass Deutschland Weltmeister werden könnte?

Jürgen Kohler: Die Erfolgsgeschichte war nicht zu erwarten. Wir hatten uns erst im letzten Quali-Spiel überhaupt die Teilnahme an der WM gesichert. Aber rund um die Weltmeisterschaft hat alles gepasst: Wir hatten ein super Trainingslager, und die Trainer haben die richtigen Spieler ausgewählt.

Durch das erste Vorrundenspiel gegen Jugoslawien, das wir mit 4:1 gewonnen haben, gelangten wir auf eine Erfolgswelle. Als wir dann auch das Achtelfinale gegen die Niederlande gewannen, war uns klar, dass das unsere WM werden könnte.

Achtelfinale gegen die Niederlande: Rudi Völler muss mit Rot vom Platz

Das Achtelfinale zwischen Deutschland und Niederlande blieb als "Hass-Spiel" in Erinnerung. Der Niederländer Frank Rijkaard hatte Rudi Völler sogar bespuckt…

Während des Spiels habe ich das gar nicht mitbekommen. Rudi hat uns in der Kabine davon erzählt. Kurios war, dass Rudi gar nichts gemacht hatte und trotzdem zusammen mit Rijkaard vom Platz gestellt wurde. Rückblickend würde ich aber sagen: Die beiden roten Karten schadeten vor allem den Niederländern.

Rijkaard war für die Stabilität in deren Defensive sehr wichtig. Die Niederländer hatten in den ersten 15 Minuten des Spiels ein Feuerwerk entbrannt. Als Jürgen Klinsmann das 1:0 erzielt hatte, lief das Spiel aber in unsere Richtung. Letztendlich haben wir 2:1 gewonnen.

Im Viertelfinale gewann Deutschland mit 1:0 gegen die Tschechoslowakei. Alle waren glücklich – nur Franz Beckenbauer nicht.

Das stimmt. Als wir nach dem Spiel in der Kabine saßen, kam Franz herein und trat mit einem lauten Knall gegen einen Wasserkasten. Daraufhin bekamen wir eine ordentliche Standpauke: Er war sauer, weil wir nach dem 1:0, welches Lothar Matthäus per Elfmeter erzielt hatte, unseren Spielfaden verloren hatten.

Dadurch hatten wir die Tschechen zurück in das Spiel geholt. Franz Beckenbauer sagte uns, man müsse in einem Turnier immer über 90 Minuten konzentriert sein. Ich muss zugeben: Das Viertelfinale war unser schwächstes Spiel in dem Turnier. Die Standpauke von Beckenbauer hatte uns geholfen. Danach haben wir besser gespielt.

Im Halbfinale setzte sich Deutschland im Elfmeterschießen gegen England durch…

Wir gingen voller Zuversicht in das Elfmeterschießen, weil wir wussten, dass wir richtig gute Schützen haben. Dann hatten wir auch noch das Glück, dass unser Torwart Bodo Illgner einen Ball im Elfmeterschießen gehalten hat.

Bodo Illgner hielt ersten Elfmeter in der Nationalmannschaft

Ich glaube, dass war im Dienste der Nationalmannschaft sein erster gehaltener Elfmeter überhaupt. Letztendlich waren Deutschland und England zwei gleichwertige Mannschafen. Die Engländer hatten mit Leuten wie Paul Gascoigne oder Gary Lineker absolute Top-Spieler.

Im Finale traf Deutschland dann auf Argentinien

Viele Fans hatten sich ein Finale zwischen Deutschland und Gastgeber Italien gewünscht, weil Italien damals die beste Mannschaft war. Uns war es allerdings recht, dass im Halbfinale Argentinien gewann. Die Argentinier hatten bei der WM oft keine gute Leistung gebracht. Vielfach kamen sie mit Glück weiter.

Deutschland gewann das Finale mit 1:0 per Elfmeter. Der eigentliche Schütze Lothar Matthäus wollte nicht schießen, weil er zur Halbzeit die Schuhe gewechselt hatte. Stattdessen erzielte Andreas Brehme das Siegtor. Wie haben Sie das damals wahrgenommen?

Der Elfmeter war nicht unbedingt ein Muss-Elfmeter. Es gab allerdings schon vorher zwei Spielsituationen, in denen wir einen Elfmeter hätten bekommen müssen. Das hat vermutlich in die Entscheidung mit hineingespielt.

Ich wusste, dass auch Andreas Brehme ein überragender Schütze ist. Daher war ich mir sicher, dass der Ball reingeht und wir dann auch Weltmeister werden. Die Argentinier hatten nämlich im gesamten Spiel keine gefährliche Aktion in unserem Strafraum.

Argentinien hatte Diego Maradona in ihren Reihen – einen der besten Spieler aller Zeiten. Wie denken Sie an ihn zurück?

Für mich war er der beste Fußballspieler aller Zeiten. Überhaupt gab es damals unheimlich viele Top-Spieler. Heute gibt es natürlich ebenfalls absolute Ausnahmespieler wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo – auch Kylian Mbappe dürfte in diese Riege vorstoßen.

Mehr Weltklassespieler als heute

Aber insgesamt gab es in den 1980er und 1990er Jahren in der Breite mehr Weltklassespieler als heute. Bei uns zählten zum Beispiel Matthäus, Völler oder Andreas Brehme dazu. Auch andere Nationen wie zum Beispiel England oder Italien hatten viele herausragende Spieler.

Was ist der Grund dafür, dass es damals mehr Weltklassespieler gab?

Die individuelle Ausbildung war damals besser als heute. Der Fußball hat sich natürlich auch gewandelt. Das Spiel ist heute schneller geworden. Die Spieler haben dadurch bei der Ballannahme sowie Ballmitnahme weniger Raum und Zeit.

Das Problem ist: Spieler trainieren heute kaum noch das, was eigentlich ihre Hauptaufgabe ist. Ein Beispiel: Heutzutage wird größten Wert darauf gelegt, dass der Torwart gut mitspielen kann. Ein Torwart sollte aber auch Bälle fangen können und somit Spiele für seine Mannschaft gewinnen. Oder nehmen wir die Verteidiger…

Ihre damalige Position…

Ich weiß nicht, ob die Abwehrspieler heutzutage überhaupt noch wissen, was richtiges Verteidigen ist. Dafür sind sie super im Spielaufbau, fungieren praktisch als erster offensiver Mittelfeldspieler. Das gilt als modern. Ich sehe das anders. Ich sage nämlich: Modern ist der, der erfolgreich ist.

Franz Beckenbauer hatte immer ein offenes Ohr

Letzte Frage: Der Erfolg der Weltmeisterschaft 1990 hängt eng mit Franz Beckenbauer zusammen. Tut es Ihnen leid, dass sein Vermächtnis wegen der Unklarheiten um die Vergabe der Weltmeisterschaft 2006 gelitten hat?

Selbstverständlich. Was der Franz für Deutschland geleistet hat – ob nun als Spieler, als Trainer oder später als Funktionär – war gigantisch. Er hat die Weltmeisterschaft nach Deutschland geholt. Man muss nur einmal überlegen, wie viel Geld dadurch eingenommen wurde.

Was im Vorfeld der WM geschehen ist, kann ich nicht bewerten. Ich kann aber den Menschen Franz Beckenbauer beurteilen: Er ist einer der besten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Er hatte immer für jeden ein offenes Ohr – ob nun für seine Spieler oder für die Fans. Daher tut es mir sehr leid, was mit ihm in der Öffentlichkeit passiert ist.

Über die Person: Der Abwehrspieler Jürgen Kohler absolvierte zwischen 1986 und 1998 für Deutschland 105 Länderspiele. Auf Vereinsebene spielte er unter anderem für den FC Bayern München, Borussia Dortmund und Juventus Turin. Als Trainer war er zuletzt für die U 19 von Viktoria Köln zuständig und führte die Mannschaft in die A-Junioren-Bundesliga. Zudem ist Kohler Inhaber einer Immobilienfirma.
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