Die deutsche Nationalmannschaft nimmt die Pflichtaufgabe gegen Weißrussland souverän und weiß in einigen Teilbereichen zu überzeugen. Das Spiel in Borisov zeigt aber auch, dass das DFB-Team so flexibel wie möglich bleiben muss.

Eine Analyse

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Der Chef war zwar nicht da, aber er hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, die Vorgaben noch einmal klar zu benennen und zu verteilen.

Joachim Löw verpasste das Spiel seiner Mannschaft zwar im Stadion, funkte vor der Partie aber noch die Aufstellung und Ausrichtung an seinen Stellvertreter Marcus Sorg durch.

DFB-Elf gegen Weißrussland: Die Spieler zeigen die richtige Einstellung

Es hätte eine unangenehme Veranstaltung werden können in Borisov, immerhin kamen einige Spieler der deutschen Mannschaft drei Wochen nach ihrem letzten Wettkampfspiel ohne echten Spielrhythmus in Weißrussland an. Wenige Tage vor dem Urlaub und nach einer langen, kräftezehrenden Saison ist das dann immer auch eine Frage von Mentalität und Einstellung.

Beides war bei der deutschen Mannschaft absolut intakt, weshalb es am 2:0-Sieg letztlich auch überhaupt nichts zu mäkeln gab.

Und das, obwohl sich für die Mannschaft einer lange Zeit nicht mehr erfahrenen Herausforderung gegenüber sah: Nach acht guten bis sehr starken Gegnern - inklusive Weltmeister Frankreich und dem Team der Stunde, Niederlande - war die Partie in Borisov gegen die allenfalls zweitklassigen Weißrussen wie eine kleine Reise zurück in die Vergangenheit.

Deutschland hatte seit dem WM-Desaster vor einem Jahr fünf Mal gegen Großkaliber gespielt (zwei Mal gegen Frankreich, gleich drei Mal gegen die Niederlande), dazu noch gegen die WM-Teilnehmer Russland, Peru und Serbien.

In der Regel waren das offene Partien gewesen, in denen die Mannschaft ihren neuen Stil mit mehr offensivem Umschaltfußball und Geschwindigkeit umsetzen konnte. Gegen die Weißrussen aber hatte die Mannschaft fast automatisch deutlich über 70 Prozent Ballbesitz und kam kaum einmal in die bevorzugten Kontersituationen.

Rückgriff auf bewährtes Rezept

Also musste es das gute alte Positionsspiel richten, dem Joachim Löw eigentlich etwas abschwören wollte. Was auch erstaunlich gut funktionierte.

"Wir haben den Ball sehr gut laufen lassen und die Räume sehr gut genutzt", befand Ilkay Gündogan nach dem Spiel am RTL-Mikrophon.

Deutschland erdrückte den Gegner mit viel Ballbesitz. Aus dem 3-4-3 formte sich die Mannschaft im Ballbesitz in ein 2-3-5 um, spielte hinten Mann gegen Mann, mit Manuel Neuer fast an der Mittellinie als einer Art Libero.

Umso überraschender fiel der frühe Führungstreffer aber nach einem anderen, dem neuen deutschen Muster: Nach einem sehr aggressiven Pressing, der resultierenden Balleroberung und dem sofortigen Umschalten.

Deutschland blieb dominant, gewährte den Gastgebern nur eine einzige Chance nach einer Ecke, war aber vor dem gegnerischen Tor manches Mal zu kompliziert und nicht genau genug.

"Man hat gesehen, dass wir einige Widerstände überwinden mussten gegen einen sehr tief stehenden Gegner, der die Räume eng gemacht hat", sagte Sorg, ebenfalls bei RTL.

Marcus Sorg ist zufrieden

"Wir wollten Dinge einige umsetzen, was uns auch zu großen Teilen gelungen ist. Heute konnte man aber auch sehen, dass, wenn das Timing nicht hundertprozentig stimmt, es richtig schwer wird. In erster Linie war aber der Sieg wichtig und dass wir mal wieder 90 Minuten an unser Limit gehen mussten. Das war eine solide Leistung, auf die man aufbauen kann."

Deutschlands Gegenpressing war gut, das Nachrücken und Zuordnen vor allen Dingen in der zweiten Halbzeit stark, als Weißrussland kaum noch aus der eigenen Hälfte kam. Durch den Verzicht auf einen klassischen Stoßstürmer sind Spiele gegen Fußballverhinderer aber immer auch ein Geduldsspiel, weil jeder Angriff um den Strafraum herum flach vor das Tor gespielt werden muss.

Mit Flanken oder hohen Zuspielen an den Fünfmeterraum kann die deutsche Mannschaft eher selten operieren, Abschlüsse aus der zweiten Reihe oder den einen oder anderen sauber getretenen Standard hatte die Mannschaft auch kaum im Repertoire. Da war noch gehörig Luft nach oben.

Immerhin waren zwischenzeitlich immer wieder sehr gute Sequenzen in den gegnerischen Zwischenräumen zu sehen. "Wir können vorne drin ja immer rotieren und uns in gute Räume bewegen, anspielbar sein und eng zusammenstehen, um dann Zug zum Tor zu entwickeln", sagte Marco Reus und spielte dabei auch ein wenig auf seinen eigenen Treffer zum 2:0 an.

Neue Hierarchien entwickeln sich

Es war schon zu sehen, dass die Mannschaft "die Aufgabe seriös erledigt hat", wie Manuel Neuer fand. Und es war zu sehen, wie sich langsam neue Hierarchien herauskristallisieren.

Niklas Süle drängt sich immer mehr als neuer Abwehrchef auf, Joshua Kimmich ist in seiner DFB-Rolle im zentralen Mittelfeld sehr auffällig, auch Gündogan übernimmt mehr Verantwortung.

Und vorne hat Joachim Löw mit dem Dreigestirn Leroy Sané, Serge Gnabry und Reus eine 1A-Lösung - und dahinter in Timo Werner, Julian Brandt, Julian Draxler und Kai Havertz sowie dem erst gar nicht nominierten Mario Götze jede Menge Alternativen.

Am Dienstag steht auch für die Nationalspieler endlich der Saisonabschluss an, und man darf davon ausgehen, dass Interimstrainer Sorg auf Geheiß seines Chefs ein wenig rotieren lässt.

Der Gegner in Mainz wird dann Estland sein. Eine Mannschaft der Güteklasse wie Weißrussland, dazu noch in einem Auswärtsspiel in Deutschland.

Es steht zu vermuten, dass sich auch die Esten am und um den eigenen Strafraum verschanzen. Die deutsche Nationalmannschaft wird sich also wieder an ihre Grundsätze aus den ganz erfolgreichen Zeiten orientieren müssen - um in der EM-Qualifikation den nächsten Schritt zu machen und für die Zukunft gewappnet zu sein.

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