Falls Sie in den letzten Tagen nicht viel auf Social Media unterwegs waren und keinem Fußball-Nationalspieler auf Instagram folgen, haben Sie es vielleicht noch nicht mitbekommen, aber es ist November – und es ist trotzdem Fußball-WM. Und Deutschland ist überraschend schlecht auf dieses einmalige Eventmeisterstück aus dem Wüstenstaat vorbereitet. Ich habe keinen einzigen Weihnachtsmarkt entdeckt, der eine Public Viewing Arena vorhält. Glühwein zum Achtelfinale, Wintermärchen 2022.

Marie von den Benken
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Marie von den Benken dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Unverständlich, denn ist die Welt doch wieder zu Gast bei Freunden. Okay, wenn man ganz genau hinschaut, mögen die Gastgeber Freunde eigentlich nur, wenn sie heterosexuell sind. Aber dafür dürfen Frauen inzwischen sogar ohne Ehemann allein ins Stadion. Also, die als Fan angereisten Frauen. Die Ehefrauen der Katarer eher nicht. Aber warum auch? Die sollen in den eigenen vier Wänden den Schutz und den Reichtum des Ehemannes genießen.

Mehr News zur Fußball-WM

Es gibt gar keine Veranlassung für eine Frau, ihr Haus zu verlassen. Schon gar nicht ohne männliche Begleitung. Das wissen wir spätestens seit der ZDF-Doku "Geheimsache Katar", in der hochrangige Sportbeauftragte des Gastgeberlandes über die großen Vorzüge eines Lebens am heimischen Herd aufklärten. Und darüber, dass Homosexualität eine mentale Krankheit sei.

So was muss man wissen, dann versteht man auch besser, dass in Katar Kindersendungen verboten werden müssen, in denen Regenbogen zu sehen sind. Das freut auch die Rechts-Bubble bei uns in Deutschland, die sich – genau wie die menschenrechtsverliebten Scheichs in Katar – Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrechen, wie wir verhindern können, dass "Die Sendung mit der Maus" und andere TV-Formate unsere Kinder alle schwul machen.

Bitte kein Bier in den schönen neuen Stadien trinken

Ach ja, Jude sollte man auch nicht unbedingt sein, wenn man während der WM in Katar seiner Religion nachgehen möchte. Oder seinen Essgewohnheiten. Öffentliches Beten ist für Juden genauso verboten wie koscheres Essen.

Und wer dann noch was trinken möchte, schwierig. Zwölf Jahre lang hatte man beteuert, die Fans würden selbstverständlich Bier in den Stadien bekommen. Ein nicht unwichtiges Detail, wenn man bedenkt, dass mit Budweiser ein Bierhersteller einer der größten Sponsoren der WM ist. Gut, drei Tage vor WM-Start wurde Bier aus den Stadien verbannt, aber Schwamm drüber. Kleines Missverständnis. Und Bier bei 50 Grad Außentemperatur, das ist sowieso keine gute Idee. Die Stadien sind auch ganz neu und wunderschön, da möchte man auch nicht riskieren, dass betrunkene Schlachtenbummler vielleicht was kaputt machen.

Okay, die Stadien werden ohnehin nach der WM wieder abgerissen, da man in einem Staat, der ungefähr halb so groß ist wie Hessen, keinerlei Fußball-Infrastruktur hat und keine auch nur ansatzweise relevante Liga, keine acht WM-Stadien benötigt. Aber egal, dafür wurden die Stadien von Billiglohn-Migranten erbaut, die von den milliardenschweren Scheichs bis zu einem Euro pro Tag für ihre Arbeit bekommen haben. Also, wenn sie nicht auf der Baustelle verunglückt oder unter den Folgen der Hitze kollabiert und verstorben sind. Aber das sollen laut Amnesty International nur knapp 15.000 Gastarbeiter gewesen sein. Das ist in etwa die Zuschauerzahl bei "BILD TV", also kann man das auch durchaus mal vernachlässigen. Ein bisschen Schwund ist immer, sagt der stolze Katari-Milliardär - wer die WM haben will, muss leiden.

Danke für diese oscarreife Aufarbeitung, Gianni Infantino!

Zum Glück gibt es aber die weltoffene Fifa, immerhin Veranstalter der WM, die Diversität und Menschenrechte sogar in ihren Leitmotiven führt. Also hat sich die Fifa, angeführt von ihrem zufälligerweise in Katar lebenden Chef Gianni Infantino, selbstredend umgehend darum gekümmert. In einer oscarreifen Andacht fühlte er sich medienwirksam wie ein Homosexueller, wie ein Gastarbeiter, wie ein Mensch mit Behinderung, wie ein Katarer und – nach kurzer Nachfrage – sogar wie eine Frau.

Damit waren die problematischen Themen und die skandaldurchtränkte Vergabesituation vor zwölf Jahren zum Glück aufgearbeitet. Gut, Bier gibt es jetzt trotzdem nicht, aber dafür hat Infantino noch mal sehr genau die Krankenakten der letzten Jahre konsultiert und so konnte glücklicherweise die Anzahl der verstorbenen Gastarbeiter von der Menschenrechtsorganisation Fifa von 15.000 auf drei korrigiert werden. Und man darf jetzt als Fan – vielleicht – mit Regenbogenfarben ins Stadion.

Die Kicker und Denker des DFB wollten aufräumen

Von der Fifa in ihrem korrupten Nukleus der Selbstbereicherung ohne Skrupel ist nicht viel zu erwarten, das ist keine große Überraschung. Aber es gibt ja noch den DFB und die Nationalmannschaft, die seit Jahren für Integration, Diversity, Inklusion, Gerechtigkeit und Menschenrechte steht. Als größter Fußballbund der Welt und mehrfacher Weltmeister hat man sogar die Macht, der Fifa ordentlich Paroli zu bieten. Vor allem bei so wichtigen Dingen wie Menschenrechte.

Ein Ruck Nationalstolz ging also durch die von der WM zuvor eher latent genervten Fanmassen. Wir Deutschen, wir würden uns nicht vor den korrupten Karren spannen lassen. Wir kommen mit der Überlegenheit der aufgeklärten Klarheit und räumen auf mit den mittelalterlichen Denkweisen der von Katar in finanzielle Beugehaft genommenen Fifa. Wir haben Rückgrat und Moral, wir zeigen auf dem Platz, was wir von diesen Machenschaften, der Historie der WM und den Bedingungen vor Ort halten.

Die großen Denker im Kader, von Kai Havertz bis Mario Götze, werden es richten. Dazu die routinierten Methusalems der Menschenrechts-Avengers Thomas Müller und Manuel Neuer, die zwar von ihrem Heimatverein FC Bayern München ebenfalls mit den Werbemillionen von Großsponsor Qatar Airways bezahlt werden, aber natürlich trotzdem für unsere Werte einstehen. Also, das war jedenfalls der Plan. Vermutlich. Tatsächlich aber gab es dann wohl einen informativen Anruf (hoffe ich), oder einen weniger informativen, dafür nachhaltig eindringlichen Besuch (hoffentlich nicht) eines Boten der Apokalypse, der im Auftrag der Fifa einige schreckliche Nachrichten überbrachte.

Aus einer großen Aktion wurde ein Herz und dann ein Nichts

Aus der großen Mannschafts-Aktion wurde eine Kapitänsbinde mit einem Herz in Regenbogenfarben. Dann eine Binde ohne Regenbogenfarben. Dann eine Binde ohne Herz, dafür mit dem Aufdruck "One Love". Dann eine Binde. Was vom Werte-Tage übrig blieb: nichts als die Angst vor einer Gelben Karte und ein devoter Bückling vor den Drohungen der Fifa. Menschenrecht: ja! Nur halt nicht, wenn die Fifa dabei genervt wird.

Um nicht gar nichts gemacht zu haben, halten sich die elf Startspieler beim Startspiel demonstrativ den Mund zu. Das offizielle Fifa-Bild zeigt die Szene gar nicht, der Rest fragt sich, ob dem Team schlecht ist. Viel war ohnehin nicht mehr erwartet worden als selbst der sonst um keinen pseudokecken Provokationsspruch verlegene Thomas Müller der staunenden Sportjournaille in die Notizbücher notiert hatte, sie sollten mal Fenster auf Kipp machen und Fußball unpolitisch halten.

Gut, er hatte es etwas anders formuliert, aber "Wer von uns Fußballern erwartet, dass wir unseren Pfad als Sportler komplett verlassen und unsere sportlichen Träume, für die wir ein Fußballerleben lang gearbeitet haben, aufgeben, um uns politisch noch deutlicher zu positionieren, der wird enttäuscht sein" sind letztendlich nur andere Worte für: Wenn es drauf ankommt, scheißen wir uns ein.

Erinnerungslücken und Denkweisen, die vielleicht gar nicht so weit weg sind von Katar

Als sich im Spätherbst des WM-Starts dann auch noch Uli Hoeneß darüber echauffierte, wie sehr die WM in Katar dem Fußball schaden würde, wusste man: Irgendwas ist wirklich faul mit der Fifa und Katar. Ausgerechnet Hoeneß, der bislang nicht müde wurde, gemeinsam mit Kalle Rummenigge, der sich übrigens immer noch nicht erinnern kann, wer ihm in Katar die beiden Rolex-Uhren geschenkt hatte, die er dann beim Zoll in München versehentlich vergessen hatte zu verzollen, die Vorzüge von Katar anzupreisen.

Den hatte man eher im Lager der intellektuellen Fan-Vorhut vermutet, die den WM-Start fleißig nutzten, um Social-Media-Kommentarspalten damit vollzuschreiben, man müsse halt die Kultur in Katar akzeptieren. Was 15.000 ausgebeutete tote Arbeiter und inhaftierte Homosexuelle mit Kultur zu tun haben sollen, diese Verknüpfung blieben sie schuldig. Auch eine Aufklärung darüber, warum sie im Zusammenhang mit Einwanderung stets davon fabulieren, der Islam wäre die größte Bedrohung für unsere Welt, während man dann aber genau denselben Islam in Katar bitte schön zu achten hätte, wird nicht mitgeliefert.

Ob das daran liegen könnte, dass so mancher "Welt"-Leser, der ein wenig traurig ist, dass es die schönen Pegida-Demos nicht mehr gibt, im Grunde gar nicht so weit weg von den Katarern denkt? Schwule sind nicht normal und Frauen gehören an den Herd? Ich weiß es nicht. Klar ist nur: Spanien hat 7:0 gegen Costa Rica gewonnen, Deutschland hat 1:2 gegen Japan verloren. Eine Niederlage gegen Spanien bedeutet das WM-Aus, dann ist es den meisten vermutlich auch irgendwie wieder egal. One Love!

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.