Der Rücktritt von Sandro Wagner aus der Nationalmannschaft befeuert die Debatte um Joachim Löws Kadernominierung nachhaltig. Aus sportlicher Sicht sind Löws Entscheidungen durchaus diskutabel, aber der Bundestrainer muss auch andere Dinge im Blick behalten.

Eine Analyse

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Man kann sich trefflich darüber streiten, ob ein Nationalspieler nach gerade einmal acht Einsätzen für sein Land einigermaßen großspurig seinen Rücktritt verkünden muss - und das dann auch noch in Zusammenarbeit mit der größten deutschen Tageszeitung.

Und ob es sich geziemt, seinem ehemaligen Vorgesetzten verbal auch noch einen mitzugeben. "Für mich ist klar, dass ich mit meiner Art, immer offen, ehrlich und direkt Dinge anzusprechen, anscheinend nicht mit dem Trainerteam zusammenpasse", war da zu lesen und dass der Spieler die Entscheidungen des Trainers "nicht ernst nehmen" könne.

Sandro Wagner hat im Sandro-Wagner-Stil die lauteste und selbstverständlich auch sehr polarisierende Variante gewählt, um auf seine Ausbootung vor der Weltmeisterschaft in Russland zu reagieren.

Der Spieler wählte nicht umsonst die "Bild"-Zeitung als Beschleuniger, um den markigen Worten genug Gewicht und mediale Streuung zu verleihen.

Es war ein letztes lautes Krachen, das Wagner im Dunstkreis der Nationalmannschaft erzeugt hat - bevor er sich in wenigen Wochen die Titelkämpfe vom heimischen Sofa aus ansehen kann.

Die eigentlich interessante Frage dreht sich nicht um das Wie von Wagners Abgang, ob der Spieler nun beleidigt überreagiert hat oder sich schlicht zu wichtig nimmt. Oder ob Wagner nun ein Charakterkopf ist oder einfach nur auffallen wollte.

Aus rein sportlicher Sicht hatte Wagner genug Argumente geliefert, um sich für einen Platz zumindest im vorläufigen WM-Kader anzubieten.

Wagner hat sehr viel riskiert

Der 30-Jährige hat in der WM-Qualifikation zusammen mit Thomas Müller die meisten Tore für Deutschland erzielt, er hat beim Confed Cup und in der Champions League auf höchstem Niveau gezeigt, dass er eine Alternative sein kann.

Und er hat dafür mitten in der Saison auch den Sprung gewagt, aus dem warmen Nest in Hoffenheim hinein ins Haifischbecken bei den Bayern - übrigens nach Absprache mit Joachim Löw.

Man könnte sagen: Sandro Wagner hat viel geleistet und jede Menge riskiert, um sich seinen Traum zu verwirklichen.

Mario Gomez hat wie Wagner im Winter ebenfalls nochmal einen Wechsel vollzogen, vom dem einen Abstiegskandidaten (Wolfsburg) zu dem anderen (Stuttgart).

Gomez hat beim VfB sauber abgeliefert, wie man neudeutsch so sagt. Er hat sich in Position gebracht bei Löw und am Ende mit sehr wichtigen Toren in sehr wichtigen Spielen den Abstiegskandidaten VfB Stuttgart zu einem Anwärter auf die Europa League geschossen.

Gomez hat sich vor allem aber immer schön bedeckt gehalten. Die Nachfragen nach seinen Chancen auf die WM hat er routiniert an sich abprallen lassen, er hat darauf reagiert wie einer, der über den Dingen steht und sein Seelenheil nicht abhängig macht von einem letzten großen Endturnier.

Gomez ist anders mit dem inneren Druck umgegangen als Wagner, der irgendwie immer etwas zu großspurig und eine Spur zu selbstüberzeugt daherkam. Das kann man niemandem vorwerfen.

Für den Gefühlsmenschen Löw aber - der in wenigen Wochen in sein sechstes Turnier als Bundestrainer geht und in dieser Beziehung schon deutlich mehr erlebt hat als Gomez und Wagner zusammen - ist das eine durchaus entscheidende Nuance.

Wagner und Gomez sind aufgrund ihrer sportlichen Fähigkeiten durchaus vergleichbar. Beide gelten als Stoßstürmer, Wagner ist im gegnerischen Strafraum eine Spur wuchtiger, Gomez ganz sicher der bessere Konterspieler.

Aber nicht nur darum geht es, wenn eine Gruppe von Spielern im besten Fall sechs oder sieben Wochen zusammen sein wird. Die Chemie untereinander muss passen.

Warum nur Petersen? - Darum!

Löw hat nicht zum ersten Mal mit Personalien überrascht. Der Verzicht auf Mario Götze hatte in der Tat rein sportliche Gründe, wenngleich man sich Götze als Spieler für sehr spezielle Momente trotz einer eher durchwachsenen Saison in Dortmund hätte vorstellen können. Bei Nils Petersen braucht man schon etwas mehr Fantasie.

Löw hat die Berücksichtigung des Freiburgers unter anderem damit erklärt, dass dieser bei einer eher defensiv veranlagten Mannschaft 15 Saisontore geschossen habe.

Er hat aber auch verschwiegen, dass fünf dieser Tore aus Elfmetern entstanden. Er hat nicht erwähnt, dass Petersen noch kein einziges Länderspiel absolviert hat oder wie er ihn einzusetzen gedenkt.

Schließlich ist Petersen ein ganz anderer Typ als Gomez und Wagner, ein sauberer Passspieler mit guter Übersicht und Technik. Aber kein Wühler oder Wandspieler und auch kein Brecher für die letzten Spielminuten.

Eigentlich gibt es für einen wie Petersen gar keine Planstelle in Löws Systemen. Und den Nachweis internationaler oder sogar Weltklasse hat Petersen, der im Europapokal insgesamt gesehen keine vier kompletten Spiele absolviert hat, noch nicht erbracht.

Löw hat hier wohl wie auf keiner anderen Position aus dem Bauch heraus entschieden.

Rational lässt sich Petersens Berufung und der gleichzeitige Verzicht auf Wagner jedenfalls nicht vorbehaltlos nachvollziehen.

Vielleicht genügt ihm ein kantiger Angreifer und er will eine Art Zwischenspieler dabeihaben, der mal Regisseur und mal Vollstrecker sein kann.

Denn so wie Löw über Petersen spricht, dass dieser "mit den Aufgaben wachsen" könne und er viel von ihm erwarte, stehen Petersens Chancen auf eine Nominierung für den endgültigen Kader ziemlich gut.

Die Teamhygiene muss passen

Vermutlich haben Löw und sein Trainerteam aber noch eine andere Sache im Hinterkopf, die zwar schon dementiert wurde, am Ende aber dennoch ein wichtiges Puzzleteil werden kann.

Wagner sei nicht wegen seiner zu forschen Art rausgeflogen, das haben Löw und Manager Oliver Bierhoff mehrfach betont. Aber beide wissen auch, wie wichtig die Teamhygiene werden wird.

Wie wichtig integrative Typen sind, die trotz ihres Reservistendaseins die Füße still und den Mund geschlossen halten, zumindest in der Öffentlichkeit. Die aber nach innen für einen guten Geist sorgen und den Kitt bilden, um eine echte Gruppe und Einheit zu formen.

Per Mertesacker hatte so eine Rolle bei der letzten WM in Brasilien inne, Lukas Podolski war der Inbegriff des Gute-Laune-Typen. Und diejenigen, die gar nicht zum Einsatz kamen, wie der damalige Dortmunder Kevin Großkreutz etwa, erfüllten im Teamgefüge wichtige Aufgaben, um die Truppe bei Laune zu halten.

Löw hat sich mit seinen Maßnahmen ein paar Baustellen zugeschüttet. Er muss jetzt nicht auf jeder Pressekonferenz die Frage beantworten, ob Wagner oder Gomez der bessere Keilstürmer sein könnte. Oder warum einer wie Götze nun schon wieder nur auf der Bank sitzt.

Es ist anzunehmen, dass es eigentlich wie immer laufen wird: Löw hat ein Gerüst aus 15 oder 16 Spielern, aus dem er die jeweiligen Startmannschaften modelliert.

Die Kaderplätze 17 bis 23 werden nur im Notfall auch auf dem Rasen wichtig werden. Sie haben die Balance im Team zu halten und jederzeit bereit zu sein.

Und das alles ohne laute Nebengeräusche oder sogar Aufbegehren. Es ist das alte Klischee der Ja-Sager und Abnicker, die Löw angeblich gerne um sich schart.

Aber wer wollte das kritisieren, wenn dieser Weg zum Titel führt?


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