2020 fielen die Olympischen Spiele dem Coronavirus zum Opfer. 1980 in Moskau traf sie der Kalte Krieg zwischen Gastgeber Sowjetunion und den USA. Harald Schmid war Deutschlands Sportler des Jahres und auf zwei Strecken weltklasse. Er hatte alles dafür getan, um Gold zu holen. Doch dann kam der Boykott.

Ein Interview

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Am 15. Mai 1980 zerplatzt der Olympia-Traum Hunderter bundesdeutscher Spitzenathleten. Das NOK beschließt, sich dem Boykott der USA anzuschließen und keine Mannschaft zu den Sommerspielen in Moskau zu entsenden.

1979 marschieren Soldaten der Roten Armee in Afghanistan ein

Es ist eine Niederlage des Sports gegen die Politik. Am 27. Dezember 1979 ist die Sowjetarmee in Afghanistan einmarschiert. Ein seitens der USA verhängtes Ultimatum zum Abzug der Soldaten bis zum 20. Februar 1980 lässt die Kreml-Führung verstreichen.

Auf Empfehlung des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter erklärt das NOK der USA am 12. April 1980 den Verzicht auf die Teilnahme an den Spielen in Moskau. Das deutsche NOK schließt sich diesem Boykott am 15. Mai 1980 an.

Der Olympia-Boykott lässt das Duell Schmid gegen Moses ausfallen

Der mit 59:40 Stimmen getroffene Beschluss trifft den damals 22-jährigen Harald Schmid besonders hart. Deutschlands Sportler des Jahres 1979 wollte sich mit US-Olympiasieger Edwin Moses über die 400 Meter Hürden ein Duell um die Goldmedaille liefern. Beide stehen durch den Boykott-Beschluss plötzlich mit leeren Händen da.

40 Jahre später erinnert sich Schmid im Gespräch mit unserer Redaktion an jene historischen Tage.

Herr Schmid, Sie waren am 15. Mai 1980 in Düsseldorf im Hilton-Hotel selbst vor Ort, als das bundesdeutsche NOK entschied, keine Mannschaft zu den Sommerspielen nach Moskau zu schicken. Wie kam es dazu?

Schmid: Ich wurde damals zur entscheidenden Abstimmung eingeladen. Ich gehörte zu den deutschen Top-Athleten, und zwei, drei andere Athleten waren auch noch vor Ort.

Sie waren damals Deutschlands Sportler des Jahres und einer der bedeutendsten Sportler des Landes. Mit welchem Gefühl sind Sie damals nach Düsseldorf gereist?

Ich war 1979 Weltbester über 400 Meter und Zweitbester über 400 Meter Hürden (hinter Edwin Moses, Anmerk. d. Red.). Moskau wäre genau richtig für mich gewesen. Egal, ob ich die 400 Meter flach gelaufen wäre oder die 400 Meter Hürden.

Im Frühjahr 1980 war ich eine lange Zeit im Trainingslager in Mexiko und in den USA gewesen. Auch über diese Entfernung zu Deutschland habe ich die ganze Diskussion um einen möglichen Olympia-Boykott sehr intensiv verfolgt. Mir war klar, wo das hinlaufen würde. Auch die mich begleitenden Sportler waren sicher, dass es zum Boykott kommen würde.

Die Politik hat damals einen großen Druck auf die Souveränität der Sportverbände ausgeübt. Das NOK war das Entscheidungsgremium. Und die Abstimmung ergab klar: Wir fahren nicht nach Moskau.

Um es deutlich zu sagen: Die Vertreter des Sports, die in diesem Gremium gesessen haben, haben gegen sich selbst gestimmt. Eigentlich müsste man erwarten, dass diese Funktionäre den Sport vertreten und alle zu Olympia wollen. Und sie wollen dafür sorgen, dass alle Sportler dorthin fahren. Doch sie haben gegen sich gestimmt und somit entgegen ihrer Bestimmung gehandelt.

Schmid: "Warum handeln diese Menschen so?

Was Sie sicherlich besonders geärgert hat ...

Nein. Mich hat es mehr oder weniger verblüfft. Mich haben damals zwei Dinge besonders verblüfft: Zum einen, dass die Menschen, die eigentlich für uns Sportler da waren, gegen sich selbst gestimmt haben. Das zweite war eine Szene, die sich direkt vor meinen Augen abgespielt hat. In einem halben Meter Abstand zu mir haben sich hochrangige Vertreter des deutschen Sports in den Armen gelegen und haben diese Abstimmung gefeiert. Das waren der damalige Präsident des Deutschen Sportbunds (Willi Weyer, Anmerk. d. Red.) und der damalige Vorsitzende der Deutschen Sporthilfe (Josef Neckermann, Anmerk. d. Red.). Die haben sich gratuliert und waren begeistert. Für uns als Sportler blieben viele Fragen offen. Warum handeln diese Menschen so?

Haben Sie darauf eine Antwort bekommen?

Nein. Ich habe versucht, eine zu bekommen. Aber es gab keine. Viele Jahre danach haben diese Vertreter versucht, ihr Handeln irgendwie für sich geradezurücken. Doch was sollte das dann noch?

Da war der Zug schon lange abgefahren und die Spiele rum.

Logisch. Für den Sportler läuft die Zeit immer gegen den Sportler. Man braucht seine eigene Jugend, um seine Leistung bringen zu können. Man kann nicht nochmal vier Jahre und nochmal vier Jahre warten.

Hat es für Sie damals eine Rolle gespielt, dass Sie mit 18 Jahren schon an den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montréal teilgenommen und dort eine Medaille gewonnen hatten (Bronze mit der 4 x 400-Meter-Staffel, Anmerk. d. Red.)?

In Montréal war ich ein Anfänger. Ich war sehr jung, ich war bei Olympia dabei, ich habe eine Medaille gewonnen. Aber für Moskau war ich Favorit. Das ist ein riesen Unterschied.

Sie fühlten sich also um mögliches Gold in Moskau betrogen.

Ich halte nichts von diesem "Was wäre wenn?". Ich weiß nur, dass ich alles dafür getan hatte, für die Spiele in Moskau in Bestform zu sein.

Ihr einziger ernst zu nehmender Konkurrent hieß damals Edwin Moses. Hat dieser Boykott sie beiden ein bisschen zusammengeschweißt? Er stand ja 1980 plötzlich wie Sie vor dem Nichts.

Klar. Was ich aber bis heute nicht verstehe: Warum sind die Sportler damals nicht aufgestanden? Uns waren aber die Hände gebunden. Es war unklar, was wir hätten machen können. Wir haben gegen diese Entscheidung der Sportverbände keine Handlungsmöglichkeit gesehen.

Haben Sie denn versucht, eine Art "Aufstand" zu initiieren?

Wo sollte der Zugang sein? Alle, die wir hätten angreifen wollen, hätten gesagt: "Aber das ist in einer demokratischen Abstimmung so festgelegt worden." Das NOK hat es entschieden.

Was hat sich für Sie durch den Boykott 1980 sportlich verändert? Haben Sie aus Trotz einfach so weitertrainiert als fände Olympia für Sie statt?

Ich hatte viel Arbeit in die Saison reingesteckt und mich gezielt vorbereitet. Ich habe versucht, noch etwas Gutes daraus zu machen. Ich habe im August und September noch gute Zeiten erzielt. Anschließend habe ich einen Haken an die Saison gemacht.

Haben Sie sich die Spiele in Moskau denn im Fernsehen angeschaut?

Ich habe sie ignoriert.

Tatsächlich auch am 26. Juli 1980? Es war der Tag des Endlaufs über die 400 Meter Hürden.

Ich glaube, ich habe diesen Lauf bis heute nie gesehen.

"Natürlich weiß ich, wer gewonnen hat"

Sie wissen aber, wer gewonnen hat, und Sie wissen auch die Zeit?

Natürlich weiß ich, wer gewonnen hat. Das ist nicht an mir vorbeigegangen. Ich habe das damals aber als eigenen Schutz gewählt. Ich wollte es nicht detailliert anschauen, um mich nicht zu belasten. Es hätte mich vielleicht verfolgt. Ich habe einen Weg gesucht, meinen Kopf frei zu bekommen, von dem Gedanken, dort sein und dort gewinnen zu können. Dadurch habe ich mir die Möglichkeit frei gemacht, für den Rest der Saison noch gut laufen zu können. Warum sollte ich alles wegwerfen, was ich mir erarbeitet hatte?

Aber hat es Ihnen keinen Stich versetzt, dass Volker Beck aus der DDR sich mit einer knappen Sekunde Rückstand auf Ihren Europarekord in 48,70 Sekunden Gold geholt hat?

Diesen Gedanken wollte ich nicht zulassen. Und ich habe es bis heute nicht getan. Es hemmt nur, sich mit Dingen zu beschäftigen, die man selbst nicht ändern kann. Für mich war es wichtig, einen Weg zu finden, wie es weitergeht im Sport. Den habe ich gefunden.

Bei den Olympischen Sommerspielen 1984 in Los Angeles fehlten dann die Sportler des damaligen Ostblocks, quasi als "Revanche" für den Boykott von 1980. Hat Sie das gestört?

Damals dachte ich für einen Moment: Das fängt an wie im Kindergarten. Du hast mein Spielzeug geklaut, jetzt klaue ich dir deins. Die Reaktion des Ostens konnte ich nicht verstehen. Dort trainieren auch Sportler. Das sind auch junge Menschen, die ihre Ziele verfolgen uns erreichen wollen. Und dann macht man daraus so ein Spiel. Das hat beiden Seiten nie gut getan. Weder der Boykott von 1980 noch der von 1984.

1988 in Seoul haben Sie - nach 1976 - nochmal Spiele ohne Boykott erlebt. Sie waren damals bereits im reiferen Sportler-Alter. Wie haben Sie Seoul in Erinnerung?

Damals war ich schon zu lange im Sport. Für einen 400-Meter-Hürdenläufer hatte ich ein fortgeschrittenes Alter. Damals war ich schon ein bisschen distanziert von diesem Erlebnis Olympia. Das hat mich nicht mehr ganz so mitgerissen wie 1976 oder 1984.

Über 30 Jahre später stecken wir in der Coronakrise. Wie 1980 kommen deutsche Sportler nicht zu Olympia, weil die Spiele in Tokio aus Gründen des Gesundheitsschutzes zumindest um ein Jahr verschoben wurden. Sind die beiden Situationen – hier ein Boykott, dort ein Virus – miteinander vergleichbar?

Es ist müßig, beides miteinander zu vergleichen. In der Weltgeschichte gibt es immer Bedingungen, die auch die Olympischen Spiele betreffen. Diese Situation haben wir jetzt. Vielleicht kann man die Spiele gar nicht durchführen (geplant ist die Durchführung vom 23. Juli bis zum 8. August 2021, Anmerk. d. Red.). Wer will das jetzt schon wissen? Ich kann den Sportlern nur ans Herz legen, nicht aufzugeben und trotzdem einen Weg zu finden, wie sie weitermachen können. Das hört sich einfach an. Aber soll man das wegwerfen, was man sich erarbeitet hat? Auch ich hatte damals diese Entscheidung zu treffen.

Chronologie: So kam es zum Olympia-Boykott 1980

  • 23. Oktober 1974: Das IOC vergibt die Olympischen Sommerspiele 1980 nach Moskau.
  • 27. Dezember 1979: Sowjetische Truppen marschieren in Afghanistan ein.
  • 4. Januar 1980: US-Präsident Jimmy Carter spricht erstmals von der Möglichkeit eines Olympia-Boykotts.
  • 22. Januar 1980: Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU, damals in der Opposition, spricht sich mit lediglich einer Gegenstimme für einen deutschen Olympia-Boykott aus.
  • 20. Februar 1980: Das Ultimatum Carters für einen Truppenabzug der Sowjetunion aus Afghanistan läuft ab.
  • 12. April 1980: Das NOK der USA beschließt die Nichtteilnahme an den Olympischen Spielen.
  • 23. April 1980: Die Bundesregierung aus SPD und FDP der Deutsche Bundestag empfehlen dem NOK einen Olympia-Boykott.
  • 29. April 1980: Bundeskanzler Helmut Schmidt von der SPD spricht gegenüber führenden Sportfunktionären seine Erwartung aus, auf eine Olympia-Teilnahme zu verzichten.
  • 9. Mai 1980: Das Präsidium des bundesdeutschen NOK empfiehlt mit 12:7 Stimmen bei einer Enthaltung den Olympia-Boykott.
  • 15. Mai 1980: Die NOK-Abstimmung in Düsseldorf fällt mit 59:40 Stimmen pro Nichtteilnahme in Moskau aus.
  • 19. Juli bis 3. August 1980: Die Olympischen Sommerspiele in Moskau finden mit lediglich 81 von 144 möglichen Nationen statt. Boykott-Gegner Willi Daume, Präsident des bundesdeutschen NOK, kommentierte anschließend: "Wir hatten in Moskau keine Mannschaft. Die Politik war stärker."
Harald Schmid sammelte als international erfolgreicher Leichtathlet des TV Gelnhausen über 400 Meter Hürden und 400 Meter flach zwischen 1976 und 1989 13 Deutsche Meisterschaften und insgesamt elf Medaillen bei Olympischen Sommerspielen, Welt- und Europameisterschaften. 1979 und 1987 kürten ihn die deutschen Sportjournalisten zum Sportler des Jahres. 2016 wurde Schmid in die "Hall of Fame" des deutschen Sports aufgenommen. Nach seinem Karriereende 1990 wurde Schmid Sportwissenschaftler, Unternehmensberater und Coach. Seit 1995 begleitet und gestaltet Schmid die Initiative "Kinder stark machen" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
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